London. Die Energierechnungen in Großbritannien werden am 1. Oktober drastisch erhöht. Vielen droht Armut. Jetzt soll es „Wärmebanken“ geben.

Überraschend war die Ankündigung nicht, aber sie schockierte dennoch. Es handele sich um eine „schwindelerregende“ Energiepreiserhöhung, sagten manche Kommentatoren, andere sprachen von einem „Hammerschlag für Familien“ und warnten vor einer „umfassenden Wirtschaftskrise für Tausende Haushalte“. Torsten Bell, der Vorsitzende der ökonomischen Denkfabrik Resolution Foundation, sagte unumwunden: „Es ist eine totale Katastrophe.“

Am Freitagmorgen gab die britische Energieaufsichtsbehörde Ofgem eine drastische Erhöhung des Energiepreisdeckels bekannt. Messlatte ist die Summe, die ein durchschnittlicher Haushalt ab Oktober für die jährliche Energierechnung zahlen wird. Laut Ofgem sind das 3549 Pfund – im Vergleich zu heute ist das eine Preissteigerung von 80 Prozent.

In Großbritannien liegt die Energieversorgung in privaten Händen

Die Behörde legt jedes Vierteljahr fest, wie viel die Energiebetriebe ihren Kunden maximal für Strom und Gas verrechnen dürfen. Dieser Preisdeckel bezieht sich jeweils auf einen typischen Haushalt mit durchschnittlichem Verbrauch. Er berechnet sich nach dem Preis der Rohstoffe auf dem globalen Markt.

Eigentlich sollte der Preisdeckel dafür sorgen, dass die Energieanbieter ihre Kunden nicht mit überteuerten Rechnungen abzocken – in Großbritannien liegt die Energieversorgung in privaten Händen. Aber jetzt, wo Strom und Gas weltweit teurer werden, sorgt das britische System dafür, dass die hohen Kosten an die Kunden weitergegeben werden.

Die ärmsten Familien geben 47 Prozent ihres Einkommens für Strom und Gas aus

Im vergangenen Winter lag die Obergrenze noch bei knapp 1300 Pfund pro Jahr; im April wurde sie auf 1971 Pfund heraufgesetzt; jetzt steigt sie um fast das Doppelte dieses Werts. Besonders kritisch: Die Preiserhöhung ab dem 1. Oktober erfolgt just zu der Zeit, wenn es kälter wird und die Briten ihre Heizungen einschalten.

Die Warnungen über die Folgen der Preiserhöhung sind dramatisch. Laut einer Schätzung werden manche der ärmsten Familien im Land 47 Prozent ihres gesamten Einkommens für Strom und Gas ausgeben. Die Zahl der Haushalte, die in diesem Winter in die Energiearmut abstürzen werden – die also mindestens zehn Prozent ihres Einkommens für Energie ausgeben müssen –, wird sich im Vergleich zum Vorjahr auf knapp neun Millionen verdoppeln, sagt die Stiftung National Energy Action.

In „Wärmebanken“ sollen Menschen mit kalten Wohnungen Zuflucht finden

Bereits jetzt bereiten sich lokale Behörden im ganzen Land auf einen schweren Notstand vor. Viele planen etwa, in Bibliotheken oder anderen öffentlichen Gebäuden sogenannte „Wärmebanken“ einzurichten – also geheizte Räume, in denen Leute mit kalten Wohnungen Zuflucht finden. Schwer wird es insbesondere für alte Menschen.

Für solche mit bescheidenen finanziellen Mitteln stehe ein „Winter der Verzweiflung“ bevor, sagt Morgan Vine von der Altersstiftung Independent Age: „Viele werden nicht länger wählen müssen, ob sie ihre Wohnung heizen oder eine Mahlzeit essen – sie werden sich weder das eine noch das andere leisten können.“ Wenn keine zusätzliche staatliche Hilfe bereitgestellt werde, dann würden mehr alte Menschen wegen Kälte sterben, warnt Vine.

Die Regierung von Premierminister Boris Johnson ist abgetaucht

Von der Regierung werden denn auch dringende Maßnahmen gefordert. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, erklärte: „Dies ist schlichtweg unerschwinglich für Millionen. Die Erhöhung darf nicht stattfinden.“ Stattdessen sollten sich die Regierung und die Energieanbieter auf eine Strategie einigen, wie eine Einfrierung des Preisdeckels längerfristig finanziert werden kann. Auch der Vorsitzende von Ofgem sagte, dass die Regierung „schnell und entschieden“ handeln müsse, um den Briten unter die Arme zu greifen.

Aber noch sieht es nicht danach aus, als sei die Energiepreiskrise für die Regierung ein besonders drängendes Problem. Am Freitagmorgen war weder im Radio noch im Fernsehen ein Regierungsminister zu hören, der Pläne vorgelegt oder zumindest Stellung genommen hätte.

Die Favoritin Liz Truss gibt sich eher unverbindlich

Das liegt auch daran, dass die scheidende Regierung von Premierminister Boris Johnson eigentlich schon eingepackt hat. Sie wartet lediglich darauf, dass am 5. September endlich die neue Regierungschefin oder der neue Regierungschef bestimmt wird. Johnson versprach am Freitag bloß, dass mehr Hilfe auf dem Weg sei.

Was hingegen die kommende Regierung zu tun gedenkt, ist nicht klar. Liz Truss, die Spitzenreiterin im Führungskampf und wahrscheinliche nächste Premierministerin, gibt sich eher unverbindlich. Zwar sagte sie kürzlich, sie wolle einen notfallmäßigen Haushaltsplan vorlegen, sobald sie in Downing Street 10 einzieht.

Aber sie hat keine Zweifel daran gelassen, dass ihr staatliche Unterstützungsleistungen zuwider sind. Sie zögere, den Verbrauchern „weiteres Geld hinterherzuwerfen“, sagte sie kürzlich an einer Wahlveranstaltung.

Im April könnte der Preisdeckel auf über 6600 Pfund ansteigen

Allerdings droht die Krise so tief und umfassend zu werden, dass der Regierung wohl keine Wahl bleiben wird – davon gehen zumindest viele Beobachter aus. Denn die Preiserhöhung vom Oktober ist erst der Anfang: Analysten haben berechnet, dass der Preisdeckel im kommenden April auf über 6600 Pfund ansteigen könnte.

Die Denkfabrik Resolution Foundation schätzt, dass ein durchschnittlicher Haushalt bereits im Januar eine monatliche Rechnung von 700 Pfund für Strom und Gas bezahlen muss. „Es ist völlig ausgeschlossen, dass der neue Premierminister nicht Milliarden von Pfund ausgeben wird, um die Energierechnungen unter dem Marktwert zu halten“, schreibt der Vorsitzende Torsten Bell.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.