Tel Aviv. Nach einem Präventivschlag Israels eskaliert die Gewalt. Terroristen feuern Hunderte Raketen ab, 31 Menschen sterben im Gazastreifen.

Knapp 600 Raketenangriffe auf Israel seit Freitag, auf palästinensischer Seite werden 31 Tote gemeldet: das ist die vorläufige Bilanz am dritten Tag der israelischen Operation im Gazastreifen. Israel hatte am Freitagabend überraschend Ziele der Terrororganisation Palästinensischer Islamische Dschihad (PIJ) beschossen. Seitdem sind die Menschen diesseits und jenseits der Grenze zwischen Israel und dem palästinensischen Gazastreifen ständigem Beschuss ausgesetzt, wobei die israelische Armee betont, nur militärische Ziele anzugreifen.

Zwei hochrangige PIJ-Führer im Gazastreifen wurden bei gezielten Angriffen getötet, auch ein regionaler PIJ-Kommandant im Süden des Gazastreifens kam laut Armeeangaben ums Leben. Zugleich gingen israelische Streitkräfte in mehreren Städten im Westjordanland gegen PIJ-Strukturen vor.

Attacke laut israelischem Militär Präventivschlag

"Morgendämmerung" – so nennt die Armee den Einsatz, der diesmal nicht mit einem Vergeltungsschlag begann, sondern mit einem israelischen Luftangriff. Laut Armee ist es ein Präventivschlag: Geheimdienste hätten klare Hinweise auf eine drohende Attacke in den nächsten Tagen gegeben, sagte ein Armeesprecher gegenüber Journalisten.

Das Kalkül der Israelis: Die Terrororganisation Islamischer Dschihad zu schwächen, ohne die im Gazastreifen herrschende Hamas in die Eskalation hineinzuziehen. Knapp 15 Monate nach der letzten elftätigen kriegerischen Auseinandersetzung, ist die Organisation geschwächt. Die Hamas müsse sich davon erst erholen, sie habe kein Interesse an einem neuerlichen Krieg, pflegen israelische Militärs zu betonen.

Tatsächlich wurden bisher laut israelischen Angaben sämtlicher Raketenbeschuss vom der PIJ verübt. Die Frage ist, was passiert, wenn sich das Kalkül der Armee als Irrtum erweist und die Hamas ihre passive Haltung aufgibt.

Israels
Israels "Iron Dome" fängt Raketen über der Stadt Ashkelon im Süden des Landes ab. © JACK GUEZ / AFP

Druck auf Hamas verstärkt sich

Je länger die Operation dauert, desto größer ist das Risiko, dass sie außer Kontrolle gerät. Schon jetzt wird im Gazastreifen massive Kritik an der Hamas-Führung laut. "Ihr lasst Frauen und Kinder in Gaza allein", wirft ein User Hamas-Führer Ismail Haniyeh vor. Jeder weitere Tag, jeder weitere Tote wird den Druck verstärken. Am Sonntag meldete sich ein Hamas-Sprecher zu Wort. In Richtung Israel sagte er, man könne die aktuelle Situation im Gazastreifen "nicht akzeptieren".

Wie in angespannten Zeiten üblich, bemühte sich der rechtsextreme israelische Politiker Itamar Ben Gvir auch diesmal, zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen, um sich auf Kosten der nationalen Sicherheit ein paar Minuten medialer Aufmerksamkeit zu gönnen – schließlich wird im Herbst gewählt. Am Sonntagmorgen, anlässlich des religiösen Feiertags Tisha B'Av, setzte er demonstrativ einen Schritt auf den Tempelberg.

Israelische Polizei am Tempelberg, vor der Al-Aqsa-Moschee.
Israelische Polizei am Tempelberg, vor der Al-Aqsa-Moschee. © Mahmoud Illean/AP/dpa

Eine kleine Minderheit der religiösen Juden pflegt an diesem Feiertag den Tempelberg zu besuchen, für die Mehrheit der Juden kommt ein Besuch auf dem Areal nahe der Al Aqsa-Moschee jedoch nicht in Frage – und für viele Muslime ist es ein Akt der Provokation. Da sich die Hamas gerne als Hüterin der Al Aqsa-Moschee darstellt, erhöht dieser als "Angriff" empfundene Marsch auf den Tempelberg den Druck und droht die Lage zusätzlich zu eskalieren. Als Ben Gvir an Gruppen von Muslimen nahe der Al Aqsa-Moschee vorbeiging, begrüßte er sie mit dem Victory-Fingerzeichen und rief: "Das Volk Israel lebt!", worauf die anwesende Menge mit "Allah u Akbar" antwortete.

Bemühungen um Feuerpause

Unterdessen bemühen sich die Mediatoren im Nahen Osten um ein baldiges Ende der Auseinandersetzung. UN-Nahostkoordinator Tor Wennesland bezeichnete die Eskalation als "sehr gefährlich". Die Menschen im Gazastreifen seien schon jetzt unterversorgt, der neue militärische Konflikt komme noch dazu in einer Zeit, in der die Welt wegen der Ukrainekrise nur begrenzte Ressourcen hat, um humanitäre Hilfe zu leisten. Die Lage ist schon jetzt besorgniserregend: In Gaza fehlt es an Strom, da das lokale Kraftwerk von Treibstofflieferungen abgeschnitten ist. Auch in den Krankenhäusern mangelt es an Material.

Der UN-Sicherheitsrat hält am Montag eine Sondersitzung zur Gaza-Eskalation ab, sie wurde von den Vereinten Arabischen Emiraten beantragt. Ägypten und die Vereinten Nationen bemühen sich um eine Feuerpause, um wenigstens Treibstofflieferungen in den Gazastreifen zu ermöglichen.

Palästinenser durchsuchen den Schutt eines Gebäudes in Rafah.
Palästinenser durchsuchen den Schutt eines Gebäudes in Rafah. © SAID KHATIB / AFP

Auch in Israel gibt es immer mehr einflussreiche Figuren, die sich für ein baldiges Ende der Operation im Gazastreifen aussprechen. Selbst der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Beit soll laut israelischen Medienberichten in der Sitzung des Sicherheitskabinetts gemahnt haben, dass es nun Zeit sei, den Einsatz zu beenden, um zu verhindern, dass Fehler passieren, die den Konflikt ausweiten könnten.

Israelische Armee griff am Sonntag weitere Ziele im Gazastreifen an

Ob die Bemühungen um eine Feuerpause fruchten, ist derzeit offen. Die israelische Armee erklärt zwar, sie habe den Großteil der Einsatzziele bereits erreicht, die Terrororganisation sei militärisch und personell nachhaltig geschwächt worden. Dennoch plane man nicht, das Feuer einzustellen, solange Israel Raketenbeschuss ausgesetzt ist, sagte ein Armeesprecher: "Ruhe wird mit Ruhe beantwortet."

Von Ruhe war Sonntagnachmittag zunächst nichts zu merken. Die israelische Armee griff weitere Ziele im Gazastreifen an, an verschiedenen Orten im Süden Israels heulten regelmäßig die Sirenen. Einige Bewohner der südlichen Städte verlegten ihren Wohnsitz vorübergehend in den Norden: "Nach mehreren schlaflosen Nächten reicht es uns", sagt eine Frau. Ihre Familie findet bei Freunden im nördlichen Haifa Zuflucht.

Am Sonntagabend gab es dann einigermaßen Hoffnungsvolle Meldungen. Israel habe einer Waffenruhe zugestimmt, berichtet die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf ägyptische Sicherheitskreise. Eine Antwort seitens der PIJ steht offenbar noch aus.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.