Berlin. Hundert Tage vor der Wahl steht nun das Programm der Union. Es enthält Erwartbares, ist aber auch eine Zäsur, kommentiert Jörg Quoos.

„Es geht nicht um Personen, sondern um Inhalte“ ist ein Satz, der in kaum einem Interview mit einem Spitzenpolitiker fehlt. Dennoch sollten Leserinnen und Leser diese Floskel nicht zu ernst nehmen, es ist die vielleicht älteste Lüge der Politik.

Die CDU, Deutschlands größte Volkspartei, hat bewiesen, wo die Prioritäten am Ende immer liegen. Erst wurde in einem harten Kampf die Machtfrage an der Parteispitze geklärt. In einem noch härteren Duell wurde der Kanzlerkandidat gekürt. Nachdem die Personalfrage beantwortet ist, liegt jetzt das Wahlprogramm der Union auf dem Tisch – knapp hundert Tage vor der Wahl, das letzte von allen im Parlament vertretenen Parteien.

Wahlprogramm: Union gibt sich mittig und modern

Wer zur seltenen Spezies der Wähler gehört, die Wahlprogramme wirklich lesen, findet auf den 138 gemeinsam formulierten Seiten wenig, an dem man Anstoß nehmen muss. Die Union gibt sich mittig und modern – und bleibt dennoch dem Motto des alten Konrad Adenauer treu, der schon 1957 auf die Wahlplakate der CDU schreiben ließ: „Keine Experimente!“

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Wer sich von Armin Laschet und Markus Söder disruptive Impulse gewünscht hat, mag enttäuscht sein. Im Wahlprogramm ist vieles erwartbar. Aber das Programm zeigt Flagge in einer Zeit, wo vielen das Weglassen unbequemer Positionen hilfreich scheint. Die Union ist diesem Trend nicht erlegen. Sie betont – noch vor dem Thema Klima – die Rolle Deutschlands in der Welt.

Gerade auf außenpolitischem Feld wirken ihre Konturen scharf und wenig wohlfeil. Mit Plänen zur Aufrüstung der Bundeswehr, dem Bekenntnis zu mehr militärischer Verantwortung und Überlegungen zu einem nationalen Sicherheitsrat zielt die Union auf Wählerinnen und Wähler, die sich von Deutschland mehr Führung in Europa erwarten. Das sind keine Wohlfühlthemen, die Stimmen bringen. Aber sie schärfen das Profil gegenüber den Mitbewerbern.

Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion. © Dirk Bruniecki

Wenig über die Finanzierung der Vorschläge bekannt

Auffallend ist aber auch, wie viele kostenintensive Vorschläge die Union vorlegt und wie wenig über deren Finanzierung nachgedacht wird. Über 110 mehr oder weniger hohe Kosten verursachende Forderungen haben die Grünen gezählt – und dort kennt man sich aus mit teurer Politik.

Der Bundestagswahl-Blog: Unionsspitzen einigen sich auf Programm

Die Fragen sind allerdings berechtigt: Woher sollen die Milliarden kommen? Wie wird der Umbau zur klimaneutralen Industrie oder ein neuer Generationenfonds für die Rente finanziert? Wenn – so der Unionsplan – die Wirtschaft kräftig wächst, kann die Rechnung aufgehen. Andernfalls riskiert man eine gewaltig höhere Staatsverschuldung. Das ist eine Hypothek auf die Zukunft – im nahen Wahlkampf ist die klare Absage an Steuererhöhungen sicher hilfreich.

Angela Merkel wird nur ein einziges Mal erwähnt

Wer sich von Seite zu Seite durcharbeitet und die wortreichen Appelle zur „Entfesselung“ und „Modernisierung“ liest, mag sich auch gelegentlich die Frage stellen: Gute Idee – aber was haben die eigentlich die letzten 16 Jahre so gemacht?

Wer so lange regiert hat wie die Union, muss damit rechnen, dass jede Beschreibung nötiger Veränderung auch ein Eingeständnis eigener Defizite ist. Auch das wird im Wahlprogramm deutlich. Weil neue Parteivorsitzende es bestimmen, ist es automatisch auch eine Abrechnung mit der Kanzlerin. Nicht mit ihrer Person, aber mit dem ihn ihrer Ära Geleisteten.

Dass dieses Wahlprogramm für die Union eine Zäsur bedeutet, wird auch an einem atmosphärischen Detail erkennbar. Angela Merkel wird nur ein einziges Mal erwähnt, im Kapitel Europa. Die Welt dreht sich also für die Union weiter – auch ohne die Rekordkanzlerin.