Berlin. Gesundheitsminister Spahn ist „sehr besorgt“ über die massenhaften Corona-Neuinfektionen. RKI-Chef Wieler warnt vor heftigem Anstieg.

  • Die Corona-Lage in Deutschland spitzt sich immer weiter zu: Erstmals seit Monaten wurden wieder mehr als 4000 Neuinfektionen gemeldet
  • Mit Wuppertal, Aachen und Hagen sind drei weitere Großstädte über die kritische Schwelle von 50 Fällen beim Sieben-Tage-Wert gestiegen
  • RKI-Chef Lothar Wieler findet eindringliche Worte und wagt eine schwerwiegende Prognose für den Winter
  • Gesundheitsminister Jens Spahn warnt davor, die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zu verlieren

„Bis hierhin.“ Jens Spahn sagt es dreimal an diesem Morgen. Bis hierhin sei Deutschland vergleichsweise glimpflich durch die Corona-Pandemie gekommen. Bis hierhin reichten die Intensivbetten, bis hierhin hatte das Land das Virus weitgehend unter Kontrolle. Doch was kommt jetzt, da die Zahlen auf einmal sprunghaft gestiegen sind, um über 4000 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden?

In einem eindringlichen, gemeinsamen Appell warnten Gesundheitsminister Spahn und RKI-Präsident Lothar Wieler am Donnerstag in Berlin vor einem Kontrollverlust: „Die neuen Zahlen besorgen mich sehr“, sagte Spahn. „Wir wollen verhindern, dass die Zahlen exponentiell steigen und wir an einen Punkt geraten, wo wir die Kontrolle verlieren.“

Noch sei Deutschland nicht an diesem Punkt angekommen. Er könne den Punkt auch nicht konkret benennen, an dem dies passiere. Aber: „Wir sollten vermeiden, es auszutesten.“

RKi-Chef Wieler ist über die aktuelle Corona-Lage in Deutschland besorgt.
RKi-Chef Wieler ist über die aktuelle Corona-Lage in Deutschland besorgt. © dpa | Tobias Schwarz

Corona-Lage in Deutschland: Warum steigen die Zahlen plötzlich sprunghaft an?

RKI-Chef Wieler warnte ausdrücklich vor Sorglosigkeit: „Wir wissen nicht, wie sich die Lage in Deutschland in den nächsten Tagen entwickeln wird. Es ist möglich, dass wir pro Tag mehr als 10.000 Fälle sehen werden. Es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet.“

Mit 4058 neu gemeldeten Fällen hat die Zahl der Neuinfektionen einen neuen Höchststand in diesem Herbst erreicht – auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle lagen die Zahlen bei rund 6000 neu registrierten Fällen pro Tag. Besonders dynamisch ist die Entwicklung derzeit in den Großstädten: Mit Wuppertal, Hagen und Aachen sind drei weitere über die kritische Schwelle von 50 Fällen beim Sieben-Tage-Wert gestiegen, auch Bremen und Berlin erreichen mittlerweile stadtweit die 50er-Grenze.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will an diesem Freitag mit den Oberbürgermeistern der elf größten deutschen Städte über die Lage beraten. „Wir dürfen das Erreichte nicht verspielen“, mahnte Spahn. Die Situation im Corona-Hotspot Berlin zeige, wie bei einem sorglosen, ignoranten Umgang die Zahlen wieder steigen würden. Er wünsche sich sehr, dass Deutschland „diesen Charaktertest“ bestehe. Lesen Sie hier: Corona-Hotspots in Deutschland – das sind alle Risikogebiete

Corona-Pandemie: RKI-Chef besorgt über Lage in Altenheimen und Krankenhäusern

RKI-Chef Wieler zeigte sich besorgt darüber, dass es aktuell wieder zu mehr Infektionsfällen in Altenheimen und Krankenhäusern komme. Nur noch acht Prozent der Neuinfektionen seien auf Reiserückkehrer zurückzuführen. Auch das durchschnittliche Alter der Infizierten steige wieder an – nachdem sich im Sommer vor allem junge Menschen angesteckt hatten. „Wir sehen, dass wieder mehr ältere Menschen erkranken.“

Dass in Deutschland bisher nicht noch viel mehr ältere Menschen dem Virus zum Opfer gefallen seien, liege auch an der der Familienstruktur: „Wir leben etwas vereinzelter, die Altersgruppen sind stärker getrennt.“ Aktuell werden laut Wieler 470 Menschen auf Intensivstationen behandelt – „die Zahl hat sich in den letzten vier Wochen verdoppelt“. Noch sei die Zahl der Verstorbenen niedrig. „Wir werden aber bald wieder mehr schwere Fälle und Todesfälle sehen.“

Wieler warnte vor diesem Hintergrund vor dem „Trugschluss“, das Virus zu unterschätzen. Der zuletzt sprunghafte Anstieg auf 4000 Fälle müsse sich jedoch nicht zwangsläufig in den kommenden Tagen fortsetzen. Bei einem diffusen Ausbruchsgeschehen sei es immer schwer, Prognosen abzugeben: „Wir werden sehen, wie es weitergeht.“ München etwa sei es gelungen, nach stark gestiegenen Fallzahlen vor vier Wochen, die Kurve durch scharfe Maßnahmen wieder zu drücken.

Am Mittwoch hatten sich die Bundesländer mehrheitlich auf Beherbergungsverbote für Reisende aus innerdeutschen Risikogebieten geeinigt. In Berlin gelten von diesem Wochenende an schärfere Regeln – etwa eine Sperrstunde und Kontaktbeschränkungen.

Corona-Infektionsgeschehen: Welche Rolle spielen Feiern?

„Diffus“ ist das Wort, das die aktuelle Infektionslage beschreibt. Die hohen Fallzahlen sind nicht mehr nur auf einzelne große Ausbrüche zurückzuführen, sondern daneben auf viele kleine im gesamten Land. Feiern spielen dabei eine zentrale Rolle: „Muss jetzt eine Hochzeitsfeier mit 300, 200, 150 Gästen sein?“ fragte Spahn verärgert. „Das kann ich mich in dieser Jahrhundertpandemie als Veranstalter, als Einlader, aber auch als Gast fragen. Muss das jetzt sein?“

Nein, ist seine klare Antwort. Gerade die Jüngeren hielten sich oft für unverletzlich. „Das sind sie aber nicht.“ Mit Blick auf die kommenden Wochen bis Weihnachten mahnte der Minister dringend auf die bewährten Regeln zu achten: Es könne immer jemand im Raum sein, der nicht wisse, dass er das Virus verbreite. Entscheidend für das Risiko seien die drei „G“-Faktoren, ergänzte Wieler: Geschlossene Räume, Gruppen und Gedränge, Gespräche und Geselligkeit.

Lothar Wieler warnte eindringlich davor, das Virus auf die leichte Schulter zu nehmen.
Lothar Wieler warnte eindringlich davor, das Virus auf die leichte Schulter zu nehmen. © dpa | Tobias Schwarz

Anstieg der Corona-Zahlen: Was erwarten die Kliniken in Deutschland?

An Deutschlands Krankenhäusern wächst die Sorge: „Wir bereiten uns darauf vor, auf eine neue Welle an Patienten, die schwer erkrankt sind“, sagte die Leiterin der Abteilung Infektiologie des Uniklinikums Gießen, Susanne Herold. Möglicherweise müssten auch wieder Operationen, die nicht dringend sind, abgesagt werden, sagte Herold. Durch das bundesweite digitale Intensivbetten-Register können heute allerdings freie Kapazitäten viel besser regional gesteuert werden.

Trump preist noch nicht zugelassenes Antikörper-Medikament

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    Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, bezifferte die Zahl der freien Intensivbetten auf 8500. Es gebe eine Notfallreserve von insgesamt 12000 solcher Betten. Für Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf stehen mittlerweile zudem mehrere erprobte Therapeutika zur Verfügung – darunter Präparate zur Blutverdünnung, das Ebola-Medikament Remdesivir und Dexamethason, ein Kortison-Präparat, das Entzündungen hemmt.

    Alles Medikamente, die auch bei US-Präsident Donald Trump eingesetzt worden waren. Das von Trumps Ärzten verwendete Antikörper-Mittel dagegen ist auch in Deutschland noch nicht zugelassen. Sollten klinische Prüfungen erfolgreich sein, könnte es hier aber eingesetzt werden, so Herold.

    Corona-Lage: Wann verlieren die Gesundheitsämter die Kontrolle?

    Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) erinnerte am Donnerstagmorgen daran, dass viele Gesundheitsämter bereits ab einer Grenze von 35 neuen Fällen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen überfordert seien – weil die Kontaktketten mit begrenztem Personal kaum noch nachvollziehbar seien.

    Die 35-Fälle-Grenze überschreiten mittlerweile Dutzende Städte und Landkreise. Um die Behörden vor Ort zu unterstützen hatte die Bundeswehr zuletzt mehr als 1300 Soldaten im Anti-Corona-Kampf im Einsatz, insgesamt stehen 15.000 Bundeswehrsoldaten dafür bereit. „Ich kann die Gesundheitsämter nur ermutigen, frühzeitig zu sagen, wir brauchen Unterstützung - dann unterstützen wir auch“, versprach Spahn.

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