Berlin. Virologe Christian Drosten wehrt sich gegen die Vorwürfe der „Bild“, ungenau gearbeitet zu haben. Die Hintergründe des Konflikts.

  • Christian Drosten und die „Bild“ liefern sich einen Schlagabtausch
  • Der Charité-Chef-Virologe wehrt sich gegen die Vorwürfe, bei einer Studie ungenau gearbeitet zu haben
  • Laut Drosten bemühe die „Bild“ zudem „Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang“
  • Ursache des Konflikts war die am Montag von Drosten bei Twitter veröffentlichte E-Mail-Anfrage eines „Bild“-Reporters

Hat Deutschlands Star-Virologe Christian Drosten bei seiner Studie zum Coronavirus-Infektionsgeschehen bei Kindern geschlampt, oder die „Bild“-Zeitung die Erkenntnisse des Forschungsteams falsch interpretiert und verzerrt?

Kaum ein Streit beschäftigt die deutschen Medien wie der zwischen Drosten und der „Bild“. Der Virologe verteidigt sich gegen die Vorwürfe, auch die von der „Bild“ zur Unterstützung ihrer These zitierten Experten haben sich von der Darstellung in der Zeitung distanziert. Das steckt hinter der Auseinandersetzung:

Drosten vs. „Bild“ – Was ist Auslöser für den Streit?

Drosten veröffentlichte am Montag bei Twitter die Mail-Anfrage eines „Bild“-Reporters und schrieb dazu, die Zeitung „plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang“. Der „Bild“-Journalist gab Drosten eine Stunde Zeit für eine Antwort auf kritische Nachfragen zu Schlussfolgerungen der Studie.

Das Setzen von Fristen bei journalistischen Anfragen ist Alltag. 60 Minuten bei einer wissenschaftlich so komplexen Sachlage wirken überzogen und unangebracht. Drosten wollte sich darauf nicht einlassen: „Ich habe Besseres zu tun.“ Mit diesem Satz handelte sich der Virologe in sozialen Medien selbst Kritik ein. Als unseriös wurde ihm vorgehalten, dass er in einem ersten Tweet die Handynummer des „Bild“-Reporters veröffentlichte. Dies korrigierte Drosten später.

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Der Streit ist deswegen brisant, weil Drosten von Corona-Leugnern, Verschwörungstheoretikern und Kritikern der restriktiven Politik als Symbol für die Entscheidungen der von ihm beratenen Bundesregierung gilt. Drosten sagte bereits vor einigen Wochen in einem Interview mit dem britischen „Guardian“ öffentlich, dass er Morddrohungen erhalten habe. Auch am Tag der Veröffentlichung teilte Drosten bei Twitter mit, zum Ziel von Drohungen geworden zu sein.

Er teilte einen Tweet des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der darin berichtete, dass ihn ein Paket mit einer angeblich positiven Covid-19-Probe erreicht hat. Drosten kommentierte diesen Tweet mit den Worten: „Das selbe Paket habe ich heute auch bekommen.“

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Was wirft die „Bild“ Drosten vor?

Die Zeitung berichtete am Montag in ihrer Online-Ausgabe und am Dienstag auf der Titelseite: „Star-Virologe Christian Drosten (48) lag mit seiner wichtigsten Corona-Studie komplett daneben.“ Und weiter: „Fiel die deutsche Schulpolitik einer falschen Studie zum Opfer?

Konkret geht es um eine wissenschaftliche Kurzstudie zur Covid-19-Ansteckungsgefahr durch Kinder im Vergleich mit Erwachsenen, die das Institut für Virologie an der Berliner Charité unter Drostens Leitung am 29. April veröffentlichte. Dabei handelte es sich um ein zusammenfassendes Vorab-Papier, das noch nicht von unabhängigen Experten geprüft wurde.

„Bild“ beruft sich auf mehrere international arbeitende Wissenschaftler, die Kritik an der Analyse geäußert hatten. Das ist richtig. Die zitierten Wissenschaftler haben sich in eigenen Fachpublikationen mit Erkenntnissen der Charité-Studie auseinandergesetzt und auf mögliche Schwachstellen in Methodik und Analyse hingewiesen. Von der „Bild“-Berichterstattung distanzierten sich mehrere von ihnen. Dazu später mehr.

• Mehr zum Thema: Christian Drosten warnt – Studie aus Italien ist alarmierend

Was sagt Drosten zu den Vorwürfen?

Der Wissenschaftler hat in den vergangenen Wochen in seinem wöchentlichen NDR-Podcast wiederholt auf die schwierige und teils widersprüchliche weltweite Studien- und Datenlage bei der Frage verwiesen, ob von Kindern bei Covid-19 die gleiche oder eine andere Ansteckungsgefahr wie bei Erwachsenen ausgeht. Dazu untersuchte er mit seinen Kollegen, wie hoch die Viruskonzentration im Rachen von Kindern und Erwachsenen ist. Für die Charité-Studien wurden positive Covid-19-Befunde von 3712 Patienten ausgewertet. Darunter waren 37 Kindergarten-Kinder, 16 Grundschulkinder und 74 von weiterführenden Schulen. Die geringe Stichprobe sorgte ebenfalls für Kritik anderer Wissenschaftler.

Im Podcast vom 30. April ging Drosten ausdrücklich auf die damals frisch veröffentlichten Ergebnisse der Charité-Kurzstudie ein und betonte im Konjunktiv, für Kinder könnte eine gleich hohe Virusladung wie bei Erwachsenen zutreffen. „Es könnte gut sein.“ Aber möglicherweise eben auch nicht. So funktioniert Wissenschaft. Trial and error. Schon damals kritisierte Drosten, Zeitungen hätten die Schlussfolgerung der Charité-Studie („Children may be as infectious as adults“) verkürzt dargestellt.

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Drosten äußerte sich aktuell auch zum Vorwurf, innerhalb des Charité-Forscherteams seien die Mängel der Studie bereits diskutiert und zum Teil eingestanden, von ihm selbst aber verschwiegen worden. „Der Bild-Reporter hat unseren englischsprachigen Mathematiker am Telefon in die Irre geführt. Er bekam die Auskunft, dass wir gerade an einem Update der Studie arbeiten, das aber das Ergebnis nicht ändert. Daraus wird dann eine interne Kritik gemacht“, so Drosten.

Auch am Tag der „Bild“-Veröffentlichung äußerte sich Drosten noch einmal im NDR-Podcast zu der Causa. Für die Vorveröffentlichung der Studie seien Laborproben von Viruslasten nach Altersgruppen ausgewertet worden. „Wir haben dafür relativ grobe statistische Methoden verwendet, durchaus auch mit der Überlegung: Die Daten an sich, die sind so grob, die sind so ungefiltert, wenn man da jetzt mit einer groben statistischen Methode nichts findet, dann lohnt es sich auch sicher nicht, da weiterzugraben mit feineren Methoden.“ Die Aussage der Studie sei einfach klar geworden: Es gebe auch bei Kindern sehr hohe Viruslasten.

Wegen des methodischen Vorgehens von Drosten und seinem Team hätten sich „zu Recht“ Statistiker gemeldet und einen Diskurs darüber begonnen, welche genaueren statistischen Möglichkeiten hätten verwendet werden können. Für die medizinische Interpretation der Daten hätten diese feineren Methoden aber keine Konsequenz gehabt.

Zunächst eine Vorveröffentlichung zu präsentieren, bevor die Ergebnisse noch umfangreicher und genauer in einer hochwertigen Studie dargestellt werden, nannte Drosten „einen normalen wissenschaftlichen Prozess, den vielleicht bestimmte Medien so nicht verstehen“.

Inzwischen gibt es neue Studien, wie infektiös Kinder sind. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellte erste Ergebnisse einer Antikörper-Studie mit 2.500 Kindern bis zehn Jahre und jeweils einem Elternteil vor: Kinder werden demnach nicht nur seltener krank, sie infizieren sich wohl auch seltener mit dem Coronavirus als ihre Eltern. „Der Unterschied ist signifikant. Wir können ausschließen, dass Kinder Treiber des Infektionsgeschehens sind“, sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart. Deshalb sei die vollständige Öffnung von Schulen und Kitas bis Ende Juni gerechtfertigt.

Wie reagieren die von „Bild“ zitierten Experten?

In dem Bericht werden die Wissenschaftler Leonhard Held von der Uni Zürich, Dominik Liebl von der Uni Bonn, Christoph Rothe von der Uni Mannheim und Jörg Stoye von der Cornell University in New York mit Kritik an der Charité-Studie aufgeführt. Alle vier „Bild“-Kronzeugen haben sich mittlerweile von der Darstellung in der Zeitung distanziert. Liebl schrieb auf Twitter:

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Auch Rothe erklärte bei Twitter, niemand von der „Bild“-Zeitung habe ihn kontaktiert. Der in den USA forschende deutsche Statistiker Stoye ging im Interview mit Spiegel Online ebenfalls auf Distanz: „Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker.“ Lesen Sie auch: Virologe bei Lanz – „Bild“-Berichterstattung ist furchtbar

Ist es üblich, Experten zu zitieren, ohne sie noch einmal selbst zu befragen?

Dass die „Bild“-Zeitung bereits publizierte Einschätzungen von Wissenschaftlern zu der Charité-Studie herangezogen hat, ohne die Experten vorab noch einmal zu befragen, ist grundsätzlich nicht strittig. Medien zitieren häufig aus veröffentlichten Analysen, etwa in Fachmagazinen. Aus Gründen der journalistischen Sorgfaltspflicht empfiehlt sich eine eigenständige Recherche bei Zitatgebern jedoch in den allermeisten Fällen, um die Aussagen in einen richtigen inhaltlichen Kontext zu stellen – zumal, wenn die aufgestellte These („grober Unfug“) so weitreichend ist.

Inhaltlich bleiben die Kritiker der Charité-Studie aber bei ihrer Einschätzung?

Der in den USA arbeitende Statistiker Stoye steht dazu: „Die für die Studie untersuchten Kinder tragen weniger Viren in sich als Erwachsene. Die Frage ist nun: Ist das nur Zufall? Oder ist es ein Muster? Ich glaube an Letzteres, anders als die Studie. Da sind wir tatsächlich unterschiedlicher Meinung.“

Er habe aber nie Drosten und den anderen Studien-Autoren indirekt Manipulation vorgeworfen: „Auf keinen Fall. Ich unterstelle Professor Drosten und seinen Mitautoren keine Intention, schon gar keine bewusste Irreführung.“ Stoye bezog sich in seinem Aufsatz auf die von den Charité-Forschern gewählte Methodik. Dass Wissenschaftler untereinander ihre Hypothesen und Arbeitsweisen kritisch hinterfragen, ist gängige Praxis.

Rückendeckung erhielt Drosten vom Medizinprofessor und SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach. Die Methodik der Charité-Studie sei einwandfrei. „Die Studie bestätigt doch genau das, was in Wuhan epidemiologisch gezeigt wurde.“ Lauterbach, der an der US-Elite-Universität Harvard in Epidemiologie und Gesundheitsökonomie promoviert hat, vermutet hinter der Kritik an der Drosten-Studie noch andere Motive: „Kritik muss erlaubt sein, aber Kollegenneid gibt es auch.“

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Wie geht die „Bild“-Zeitung mit der Kritik an ihrer Berichterstattung um?

„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt verteidigte die Veröffentlichung. „Wie die Medien gerade über Bild berichten, statt über Drostens falsche Studie, wird uns massiv neue Leser bescheren. Es ist der beste Beleg dafür, dass manche sehr notwendige und höchst berechtigte kritische Fragen derzeit nur von Bild gestellt werden. Journalismus sollte keine Weide für heilige Kühe sein.“

Der Autor des „Bild“-Textes, Filip Piatov, schrieb bei Twitter, dass die von ihm zitierten Wissenschaftler sich von der Berichterstattung distanzierten, sei deren gutes Recht. „Aber sie bleiben bei ihrer Kritik an der Studie. Diese öffentlich geäußerte Kritik haben wir zitiert.“

Der langjährige Politik-Chef von „Bild“ und „Bild am Sonntag“, Georg Streiter, bezeichnete die Berichterstattung über Drosten und die Studie dagegen als Versuch, Drosten zur „Schlachtbank“ zu führen. Die Schlagzeile „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“ sei nicht belegt, schrieb Streiter, der von 2011 bis 2018 Vize-Regierungssprecher war, bei Facebook.

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Ist es das erste Mal, dass „Bild“ und Drosten aneindergeraten?

Nein. Bereits vor wenigen Wochen berichtete „Bild“, Kanzlerin Angela Merkel habe „im kleinen Kreis der Ministerpräsidenten nach Bild-Informationen erstmals deutliche Kritik an Deutschlands Virologen geäußert. Vor allem auf den Top-Virologen Christian Drosten (Berliner Charité) bezog sich ihr Unmut in der Video-Schaltkonferenz“. Merkel habe sich in der Spitzenrunde angeblich über ein Hin und Her von Drosten in Sachen Infektionsrisiko durch und bei Kindern geärgert. Drosten hatte seine Meinung über die Schließung von Schulen und Kitas im Verlauf der Pandemie aufgrund wechselnder wissenschaftlicher Erkenntnisse geändert.

Regierungssprecher Steffen Seibert widersprach später der „Bild“-Darstellung. In der auf das Bund-Länder-Treffen folgenden Pressekonferenz am 30. April dankte Merkel der Wissenschaft allgemein für Ratschläge in der Krise und warnte davor, die Überbringer von Botschaften dafür verantwortlich zu machen, dass bestimmte Lockerungen auf sich warten ließen. Es wäre schwierig, wenn Wissenschaftler sich nicht mehr trauten, sich öffentlich zu äußern. „Da sind Unsicherheiten dabei. Das liegt in der Natur der Sache, deshalb ist Wissenschaft so spannend. Kenne ich ja noch von früher“, sagte Merkel. Die promovierte Physikerin fügte hinzu: „Deshalb sind wir Politiker noch da und müssen daraus die Schlüsse ziehen.“ (mir raer/ba)

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