Berlin. Seit Jahren fliehen in der afrikanischen Tschadsee-Region Millionen Menschen. Die Gründe: Folgen des Klimawandels, Gewalt und Armut.

Als Falmata 13 Jahre alt war, verlor sie die Leichtigkeit ihrer Jugend. Das Mädchen sollte einen Mann heiraten, viel älter als sie, einen Fremden. Falmata wuchs als Waise auf – und wurde zwangsverheiratet, wie so viele junge Frauen in der Region. Der Mann, erzählt Falmata, habe sie geschlagen, missbraucht, hungern lassen. Immer wieder flieht das Mädchen zu ihren Großeltern. Immer wieder holt der Mann sie zurück.

Die Geschichte von Falmata ist eine von vielen Tausenden in der Region am Tschadsee, einem Gebiet aus Wäldern, Wiesen, Sand und Wasser. Der Tschadsee ist der viertgrößte Süßwassersee Afrikas, im Ländereck von Niger, Nigeria, Tschad und Kamerun. Nicht nur Falmata ist vertrieben von ihrer Familie. Laut Vereinten Nationen sind mehr als zwei Millionen Menschen in der Region auf der Flucht.

Kaum jemand erfährt vom Drama am Tschadsee

Es sind Geschichten über Gewalt, Terrorismus und Klimawandel. Über Korruption und fehlende Bildung. Und darüber, wie das alles zu einer Flüchtlingskrise führt, die der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, Christos Stylianides, als „eine der schwersten auf dem afrikanischen Kontinent“ beschreibt.

Allein in Nigeria sind nach Angaben der dortigen Regierung bei Anschlägen und Angriffen von Islamisten seit 2009 mindestens 20.000 Menschen getötet worden. Erst am Wochenende hieß es aus Sicherheitskreisen, dass Militante bis zu 30 Soldaten attackiert und getötet hätten.

Und doch: Kaum jemand in Europa hört je etwas von diesen Millionen Menschen am Tschadsee. Dabei erklärt die Krise wie kaum eine andere, warum Menschen fliehen müssen. Bis nach Europa. Bis nach Deutschland. Der Tschadsee bedeckte noch in den 1970er-Jahren ein Gebiet fast so groß wie Mecklenburg-Vorpommern.

Heute zeigen Satellitenbilder, dass die Wasserfläche um 80 Prozent zurückgegangen ist. Anhaltende Dürre und fehlender Naturschutz ließen den Pegel schrumpfen – und haben eine Kettenreaktion in Gang gesetzt: Viele Tausende Viehzüchter ließen ihre Tiere dort weiden, Fischer verdienten mit dem See ihr Geld. Dann kämpften die Hirten um das wenige Wasser für ihr Vieh, der Fischfang brach ein, Tausende Menschen zogen weg, ins Landesinnere von Nigeria, Niger, Kamerun und Tschad. Dort stießen Hirten auf Ackerbauern – und kämpften um das Land.

Wo Armut wächst, wächst Terror

Und wo Gewalt regiert und Armut wächst, breiten sich Terrorgruppen schneller aus. Irgendwann kontrollierte Boko Haram viele Teile des Tschadsees – brutale Islamisten. Manche Bewohner schlossen sich den Terroristen an, weil sie dort Sold, Frauen und Häuser bekamen.

Andere flohen – meist nur ein paar Dörfer weiter oder in eines der vielen Flüchtlingscamps in der Region, andere ins Nachbarland. Nach Europa flohen von den Menschen am Tschadsee nur wenige, jedenfalls anfangs. Die allermeisten Flüchtlinge bleiben in der Region, so auch hier, am Tschadsee. Fast die Hälfte der Vertriebenen sind Kinder.

Auch sie landen oftmals über mehrere Jahre in Camps, in Familien in Nachbarstaaten – oder in den Händen von gewalttätigen Männern, wie im Fall der jungen Falmata aus Niger. Erst wenn sich über Jahre die Lage nicht bessert, fliehen die Menschen weiter: ins nächste Land, in den Norden – und wer genug Geld und Mut hat, bis nach Europa. Meist sind es junge Männer. Zurück bleiben zerstörte Dörfer und Familien.

Gemeinsam mit der Caritas oder dem Roten Kreuz ist auch die Kinderhilfsorganisation Plan International seit Jahren am Tschadsee aktiv, verteilt Essen und Medizin, sorgt für Betreuung durch Psychologen und Sozialarbeiter.

In einer bisher unveröffentlichten Plan-Studie, die unserer Redaktion vorliegt, gab jedes fünfte Mädchen zwischen 10 und 19 Jahren in der Tschadsee-Region an, im vergangenen Monat geschlagen worden zu sein. Viele Mädchen würden die Schule abbrechen, weil sie „verheiratet, schwanger oder vergewaltigt werden“.

Dies berichtet etwa ein 18 Jahre altes Mädchen aus Kamerun. Die Folgen von Klimawandel, Armut und gewaltsamem Extremismus führen in vielen Regionen Afrikas und im Nahen Osten zu Generationen junger Menschen ohne Schulbildung, Arbeit und Absicherung.

Im Schatten der Krise gedeiht Korruption

Regierungen vor allem in Nigeria und Kamerun haben das Drama am großen See kaum beachtet, der Terror konnte wachsen. Nach Jahren befreiten Armeen weite Teile des Tschadsees von Terroristen – und kontrollieren den Zugang zum See. Experten sagen: Militärchefs und Staatsbedienstete verdienen kräftig mit. Das Vertrauen in die Soldaten ist gering. Im Schatten des Anti-Terror-Kampfes entsteht mit wachsender Korruption eine neue Front.

Erst vergangene Woche war Kanzlerin Angela Merkel zu Besuch in Nigeria, Afrikas bevölkerungsreichstem Land. Die CDU-Chefin wollte auch ein Zeichen setzen, dass Deutschland die Regierung von Präsident Muhammadu Buhari unterstützt, gerade vor der anstehenden Tschadsee-Konferenz in Berlin. Trotz reicher Ölvorkommen ist die Mehrheit der Menschen in Nigeria sehr arm.

Die Infrastruktur sowie das Bildungs- und Gesundheitssystem gelten als desolat – zum Beispiel stirbt jedes zehnte Kind in Nigeria der Weltbank zufolge noch vor dem fünften Geburtstag. Die Regierung scheint überfordert, doch die Herausforderung wird immer größer: Nigerias Einwohner sollen sich wegen der hohen Geburtenrate UN-Prognosen zufolge bis 2100 auf 914 Millionen Menschen mehr als vervierfachen.

Mehr Studenten nach Deutschland

Nigeria ist Hauptherkunftsland der nach Europa strebende Migranten auf zentralen Mittelmeerroute. Viele der Flüchtlinge machen sich aus den großen Metropolen des Landes im Süden und Westen mit Hilfe von Schleusern auf den Weg über Niger in Richtung Libyen und dann Europa. Zumeist sind die Menschen, die nach Europa fliehen, bereits viele Jahre in Armut und Arbeitslosigkeit.

Wie hoch der Anteil der Vertriebenen aus der Tschadsee-Region unter den in Europa ankommenden Menschen ist, bleibt schwer zu schätzen. Die Mehrheit der von Armut und Terrorismus Bedrohten und Vertriebenen lebt meist für mehrere Jahre in den Camps in der Krisenregion etwas abseits des Tschadsees wie im Borno-State im Norden Nigerias.

In Europa haben Menschen aus Nigeria nur eine geringe Chance auf Asyl. Derzeit halten sich in Deutschland 8600 ausreisepflichtige Nigerianer auf, weitere 20.000 befinden sich in einem Asylverfahren, die meisten ohne Aussicht auf eine Anerkennung. Die Bunderegierung bemüht sich darum, die Afrikaner, die nicht bleiben dürfen, in ihre Länder zurückzubringen.

Merkel bot bei ihrem Besuch in Westafrika mehr Studienplätze in Deutschland an – als Mittel gegen Flucht. Es gebe derzeit 1200 nigerianische Studenten in Deutschland. Diese Zahl könne steigen. „Wir waren uns einig, dass gerade Schleuser-Kriminalität und illegale Migration nur bewältigt werden kann, wenn gleichzeitig auch eine wirtschaftliche Perspektive für die jungen Menschen da ist.“

Hilfskonferenz in Berlin

Präsident Buhari kritisierte zwar Nigerianer, die das Land verließen, um sich irregulär in anderen Ländern niederzulassen. Er vermied aber ausdrücklich eine Zusage, Nigerianer aus Deutschland zurückzunehmen.

Bleibt der Kampf gegen Fluchtursachen. Heute treffen sich Regierungen, Helfer und Forscher zu einer zweitägigen internationalen Geberkonferenz für den Tschadsee in Berlin. Die Region sei „zum Tummelplatz für Gruppen wie Boko Haram und ISIS geworden, die auch für unsere Sicherheit in Europa eine Bedrohung sind“, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) unserer Redaktion.

„Wir können uns nicht erlauben, wegzuschauen, wenn die Nachbarn unserer Nachbarn destabilisiert werden.“ In dem Gebiet zwischen Nigeria, Tschad, Niger und Kamerun spiele sich seit Jahren zudem „eines der größten humanitären Dramen unserer Zeit ab“.

Geld von der EU

EU-Kommissar Stylianides kündigte mehr Geld der EU an, 232 Millionen Euro. 88,9 Millionen Euro davon seien für humanitäre Hilfe und 143 Millionen Euro für mehr Stabilität und Entwicklung. Ungefähr 3,6 Million Menschen in der Tschadsee-Region bräuchten Nahrungsmittelnothilfe, so Stylianides. Mehr als 500.000 Kinder seien auf Hilfe angewiesen, „um schlicht zu überleben“.

Auch Hussaini Abdu ist in Berlin, Direktor von Plan International in Nigeria. Es sei ein Muss, dass die Gemeinschaft den Überlebenden von Armut und Gewalt helfe, sagt er. Auch Mädchen wie Falmata. Mittlerweile wird sie von Sozialarbeitern betreut, besucht regelmäßig einen Jugendclub in ihrer Region. Ihre Zwangsehe aber besteht. Die Großeltern haben kein Geld, die Mitgift zurückzuzahlen.