Berlin. Ruth Westheimer ist Amerikas berühmteste Sex-Therapeutin und schrieb zahlreiche Bücher. Nun wird „Dr. Ruth“ 90 - und arbeitet weiter.

Als Ruth Westheimer noch regelmäßig in der abendlichen US-Fernseh-Talkshow von David Letterman zu Gast war, bekamen die Zuschauer ein seltsames Foto zu sehen. Darauf abgebildet: Zwiebelringe. Mit dem Gemüse, das so schnell auf die Tränendrüse drückt, verbindet sich eine der schönsten Episoden im Leben der weltbekannten Sexualtherapeutin.

In einer Folge ihrer später ins Fernsehen abgewanderten Radiosendung „Sexually speaking“, die sie Anfang der 80er-Jahre begann, erzählte eine Dame, wie sehr es sie in Wallung bringt, wenn sie ihrem Liebhaber vor dem Akt Zwiebelringe über das zu Diensten stehende Gemächt stülpt. Ob rohe oder gedünstete, daran kann sich die nur 1,40 Meter große Westheimer nicht mehr erinnern. „Aber ich habe wirklich laut gelacht.“

An diesem Montag wird die ansteckend lebensfrohe Frau, von der Hunderttausende Amerikaner-/innen gelernt haben, wie sich unverklemmt über guten Sex reden lässt und wie man ihn lernen kann, 90 Jahre alt.

Ruth Westheimer ist gebürtige Deutsche

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Wer das seit über einem halben Jahrhundert im deutschen Einwanderer-Viertel Washington Heights im Norden Manhattans lebende Energiebündel einmal live erlebt, versteht sofort, warum Ruth Westheimer in den USA einfach Erfolg haben musste: Eine gebürtige Deutsche, die mit hessischem Akzent auf Englisch launig und entwaffnend über Hochs und Tiefs unter der Bettdecke doziert – das war Ende der 70er-Jahre Neuland.

Wie sie live am Mikrofon oder vor der Kamera Klartext redete über Erektions- und Orgasmuspleiten, ohne ins Pornografische abzugleiten, wie sie den Menschen herzlich zugewandt war, ohne sich ihnen anzubiedern, wie sie humorvoll blieb, ohne je peinlich zu werden – das ist bis heute einzigartig.

Westheimer empfiehlt die Bibel als Aphrodisiakum

Was sowieso für die ganze Person Westheimer gilt, die ihre Erkenntnisse über die Nahzonen des Zwischenmenschlichen in über 30 Büchern erfolgreich verewigt hat. Darunter solche Preziosen wie „Himmlische Lust“. Ein Werk, in dem die undogmatische Autorin die Bibel – hier vor allem das Alte Testament – als Aphrodisiakum („Beten als Vorspiel? Warum nicht“) gegen Lustlosigkeit und Eintönigkeit entdeckt. Dass der Boulevard sie lange „Sex-Päpstin“ nannte, nahm die Vorreiterin der Aufklärung dabei stets mit Ironie: „Aber ich bin doch gar nicht lustfeindlich.“

Westheimers Eltern wurden in Auschwitz ermordet

Die dreimal verheiratet gewesene Mutter zweier Kinder und Oma von vier Enkelkindern blickt auf ein filmwürdiges Leben zurück. Dazu gehören Szenen wie diese: die ersten zehn Lebensjahre als deutsch-jüdisches Mädchen namens Karola Siegel in Frankfurt am Main, Brahmsstraße 8. Nordend. Das von den später in Auschwitz ermordeten Eltern im Jahr 1938 rechtzeitig in die sichere Schweiz geschickte Flüchtlingskind. Die junge Zionistin, die sich nach dem Jahr 1945 von der jüdischen Untergrund-Armee Haganah in Palästina zur Scharfschützin ausbilden ließ. Das schwer an den Füßen verletzte Opfer einer Granate. Die Psychologie-Studentin an der Pariser Sorbonne. Die Sexualwissenschaftlerin an der New Yorker Columbia-Universität.

Ihr Geheimnis ist, sich jeden Abend zu fragen, wo man ausgehen könnte

Dann, im Alter von über 50, der Beginn der umjubelten Karriere als „Hebamme der Lust“, die ihr Fernsehpublikum regelmäßig mit einem entschiedenen „Have good Sex!“ in die Nacht entließ. Obwohl sie doch eine Verfechterin des Beischlafs am Morgen ist. Und Langeweile, physische wie intellektuelle, neben irrigerweise aus Hollywoodfilmen übernommenen Erwartungshaltungen an das Geschehen im Bett für die größten Liebestöter hält.

Als Gegenmittel verordnet Westheimer ihren Patienten bis heute einfache Weisheiten wie diese: „Ich will, dass ihr heute Abend folgende Stellung ausprobiert. Morgen ruft ihr mich dann an und berichtet mir.“ Auch auf ihrem von rund 90.000 Menschen abonnierten Twitter-Kanal @AskDrRuth geht die Seniorin mit der Zeit. Der irgendwann bevorstehenden Bevölkerung des Planeten Mars und den damit verbundenen Implikationen fürs Intimleben will sie sich nicht mehr widmen. „Wie man Sex in der Schwerelosigkeit hat, darum müssen sich andere kümmern.“

Für ein langes Leben empfiehlt sie in jedem Fall Ausgehen. „Mein Geheimnis ist“, erzählt sie, „dass ich mich jeden Tag frage: Was kann ich heute Abend machen?“