Berlin. Vor einem Jahr lässt die Kanzlerin Tausende Flüchtlinge ohne große Kontrollen ins Land kommen. „Wir schaffen das“, sagt sie bis heute.

Es ist die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, in der Bundeskanzlerin Angela Merkel eine folgenschwere Entscheidung trifft. In Ungarn wird das Versagen der Europäischen Union (EU) in der Flüchtlingspolitik gerade für alle Welt sichtbar, der rechtsnationale Ministerpräsident Victor Orban verschärft die Lage mit Zäunen und Abschottungsrhetorik.

Tausende Flüchtlinge, viele davon aus dem Bürgerkriegsland Syrien, flehen um Hilfe. Erschöpft, verzweifelt, traumatisiert – mit einem Rest an Energie schaffen es manche, zu Fuß auf Autobahnen und Bahngleisen gen Westen zu laufen.

Eine unbürokratische Entscheidung

CDU-Chefin Merkel und Österreichs damaliger sozialdemokratischer Kanzler Werner Faymann befürchten Tote. Sie entscheiden, die Menschen unbürokratisch in ihre Länder zu lassen. Was eine Ausnahme sein sollte, entwickelt über Wochen und Monate eine eigene Dynamik. Merkel sagt: „Wir schaffen das.“ Sie sagt es bis heute.

So sehen die Flüchtlingsrouten heute aus

Im Herbst 2015 war die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt. Wie wichtige Orte entlang der Route durch Europa damals aussahen und wie die Lage heute ist, zeigt die Bildagentur Getty in Fotomontagen. Oben: Flüchtlinge erreichen die Insel Lesbos im Oktober 2015. Unten: Im Juli 2016 ist die Küste verlassen.
Im Herbst 2015 war die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt. Wie wichtige Orte entlang der Route durch Europa damals aussahen und wie die Lage heute ist, zeigt die Bildagentur Getty in Fotomontagen. Oben: Flüchtlinge erreichen die Insel Lesbos im Oktober 2015. Unten: Im Juli 2016 ist die Küste verlassen. © Getty Images | Spencer Platt/Milos Bicanski
Oben: Am Strand von Lesbos sammeln sich im November 2015 Rettungswesten, die die Flüchtlinge bei ihrer Überfahrt von der Türkei nach Griechenland getragen haben. Unten: Im Juli 2016 sind keine Spuren mehr von den gefährlichen Bootsfahrten zu sehen.
Oben: Am Strand von Lesbos sammeln sich im November 2015 Rettungswesten, die die Flüchtlinge bei ihrer Überfahrt von der Türkei nach Griechenland getragen haben. Unten: Im Juli 2016 sind keine Spuren mehr von den gefährlichen Bootsfahrten zu sehen. © Getty Images | Milos Bicanski
Oben: Ehrenamtliche Helfer waten im November 2015 durch das Wasser, um ein Flüchtlingsboot an Land zu ziehen. Unten: Im Sommer 2016 scheint die Krise weit entfernt zu sein.
Oben: Ehrenamtliche Helfer waten im November 2015 durch das Wasser, um ein Flüchtlingsboot an Land zu ziehen. Unten: Im Sommer 2016 scheint die Krise weit entfernt zu sein. © Getty Images | Milos Bicanski
Was für ein Kontrast! Oben: Hunderte Flüchtlinge marschieren im Oktober 2015 entlang slowenischer Felder. Sie werden von Polizisten begleitet. Unten: An gleicher Stelle nutzt eine Radfahrerin das schöne Sommerwetter für eine Tour.
Was für ein Kontrast! Oben: Hunderte Flüchtlinge marschieren im Oktober 2015 entlang slowenischer Felder. Sie werden von Polizisten begleitet. Unten: An gleicher Stelle nutzt eine Radfahrerin das schöne Sommerwetter für eine Tour. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Während sich der Flüchtlingsstrom im Oktober 2015 seinen Weg in Richtung eines Zeltlagers bei Rigonce in Slowenien macht (oben), ist auf dem kleinen Feldweg ein knappes Jahr später kein Mensch unterwegs (unten).
Während sich der Flüchtlingsstrom im Oktober 2015 seinen Weg in Richtung eines Zeltlagers bei Rigonce in Slowenien macht (oben), ist auf dem kleinen Feldweg ein knappes Jahr später kein Mensch unterwegs (unten). © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Im September 2015 machen sich Hunderte Migranten auf den Weg vom ungarischen Hegyeshalom nach Österreich. Unten: In der Nähe der Bahnstation von Hegyeshalom überquert eine einsame Radfahrerin die Straße.
Oben: Im September 2015 machen sich Hunderte Migranten auf den Weg vom ungarischen Hegyeshalom nach Österreich. Unten: In der Nähe der Bahnstation von Hegyeshalom überquert eine einsame Radfahrerin die Straße. © Getty Images | Christopher Furlong/Matt Cardy
Oben: Neben der kleinen Kirche bei Dobova (Slowenien) erstreckt sich der Flüchtlingstross bis zum Horizont. Unten: Inzwischen trifft man hier wieder nur selten auf Menschen.
Oben: Neben der kleinen Kirche bei Dobova (Slowenien) erstreckt sich der Flüchtlingstross bis zum Horizont. Unten: Inzwischen trifft man hier wieder nur selten auf Menschen. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Flüchtlinge laufen im vergangenen September über eine Autobahn im ungarischen Roszke. Sie hatten sich zuvor geweigert, zur Registrierungsstelle zu reisen. Unten: Auf der M5/E-75 sind im Juli 2016 nur Autos unterwegs.
Oben: Flüchtlinge laufen im vergangenen September über eine Autobahn im ungarischen Roszke. Sie hatten sich zuvor geweigert, zur Registrierungsstelle zu reisen. Unten: Auf der M5/E-75 sind im Juli 2016 nur Autos unterwegs. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Hunderte Flüchtlinge nutzen im September 2015 die Autobahn im ungarischen Roszke als Flüchtlingsroute. Unten: Die Autobahn kann wieder von Autos befahren werden, Menschen sind nicht mehr zu sehen.
Oben: Hunderte Flüchtlinge nutzen im September 2015 die Autobahn im ungarischen Roszke als Flüchtlingsroute. Unten: Die Autobahn kann wieder von Autos befahren werden, Menschen sind nicht mehr zu sehen. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Die ungarische Grenzpolizei setzt im September 2015 Wasserwerfer ein, um den Übergang nach Serbien in der Stadt Horgos zu sichern: Unten: Die Grenze ist heute so gut wie unbewacht.
Oben: Die ungarische Grenzpolizei setzt im September 2015 Wasserwerfer ein, um den Übergang nach Serbien in der Stadt Horgos zu sichern: Unten: Die Grenze ist heute so gut wie unbewacht. © Getty Images | Christopher Furlong/Matt Cardy
Oben: Hunderte Flüchtlinge bahnen sich im kroatischen Tovarnik ihren Weg zum Bahnhof, um nach Zagreb zu kommen. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Serbien dicht gemacht hat, suchen viele Flüchtlinge den Weg über Kroatien. Unten: Im Juli 2016 ist Ruhe eingekehrt in Tovarnik.
Oben: Hunderte Flüchtlinge bahnen sich im kroatischen Tovarnik ihren Weg zum Bahnhof, um nach Zagreb zu kommen. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Serbien dicht gemacht hat, suchen viele Flüchtlinge den Weg über Kroatien. Unten: Im Juli 2016 ist Ruhe eingekehrt in Tovarnik. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Der Bahnhof im kroatischen Tovarnik platzt im September 2015 aus allen Nähten. Unten: Im Juli 2016 ist weit und breit kein Fahrgast in Sicht.
Oben: Der Bahnhof im kroatischen Tovarnik platzt im September 2015 aus allen Nähten. Unten: Im Juli 2016 ist weit und breit kein Fahrgast in Sicht. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Im Spätherbst 2015 suchen Tausende Flüchtlinge den Weg von der Türkei über die griechischen Inseln nach Mitteleuropa. Im November ist der Hafen von Mytilene auf Lesbos überfüllt mit Flüchtenden, die auf eine Fähre nach Athen warten. Unten: Der Hafen von Mytilene im Juli 2016 bietet Reisenden viel Freiraum.
Oben: Im Spätherbst 2015 suchen Tausende Flüchtlinge den Weg von der Türkei über die griechischen Inseln nach Mitteleuropa. Im November ist der Hafen von Mytilene auf Lesbos überfüllt mit Flüchtenden, die auf eine Fähre nach Athen warten. Unten: Der Hafen von Mytilene im Juli 2016 bietet Reisenden viel Freiraum. © Getty Images | Carl Court/Milos Bicanski
Oben: Hunderte Flüchtlinge kampieren im August 2015 entlang einer Bahnstrecke im ungarischen Roszke. Unten: Wenn im Juli 2016 nicht gerade ein Zug anrollt, herrscht Ruhe in Roszke.
Oben: Hunderte Flüchtlinge kampieren im August 2015 entlang einer Bahnstrecke im ungarischen Roszke. Unten: Wenn im Juli 2016 nicht gerade ein Zug anrollt, herrscht Ruhe in Roszke. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Der Keleti-Bahnhof in Budapest ist im September 2015 einer der größten Flüchtlings-Hotspots in Europa. Zwischenzeitlich verlassen keine Züge mehr den zentralen Bahnhof in der ungarischen Hauptstadt. Unten: Im Juli 2016 herrscht Normalität im Keleti-Bahnhof.
Oben: Der Keleti-Bahnhof in Budapest ist im September 2015 einer der größten Flüchtlings-Hotspots in Europa. Zwischenzeitlich verlassen keine Züge mehr den zentralen Bahnhof in der ungarischen Hauptstadt. Unten: Im Juli 2016 herrscht Normalität im Keleti-Bahnhof. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Als sich die Lage am Budapester Keleti-Bahnhof im September 2015 immer weiter zuspitzt, werden Busse eingesetzt, um die Flüchtlinge Richtung Österreich weiterzubringen. Der Busbahnhof entwickelt sich zu einem riesigen Zeltlager. Unten: Der Busbahnhof am Keleti-Bahnhof ist im Juli 2016 am Abend zeitweise menschenleer.
Oben: Als sich die Lage am Budapester Keleti-Bahnhof im September 2015 immer weiter zuspitzt, werden Busse eingesetzt, um die Flüchtlinge Richtung Österreich weiterzubringen. Der Busbahnhof entwickelt sich zu einem riesigen Zeltlager. Unten: Der Busbahnhof am Keleti-Bahnhof ist im Juli 2016 am Abend zeitweise menschenleer. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Nicht nur am Busbahnhof, sondern überall rund um den Keleti-Bahnhof in Budapest ist ein Flüchtlings-Camp entstanden. Viele Menschen bringen Kleiderspenden, um den Flüchtenden zu helfen. Unten: Vor dem Keleti-Bahnhof wird es im Juli 2016 allenfalls zur Rush Hour ein wenig unruhig.
Oben: Nicht nur am Busbahnhof, sondern überall rund um den Keleti-Bahnhof in Budapest ist ein Flüchtlings-Camp entstanden. Viele Menschen bringen Kleiderspenden, um den Flüchtenden zu helfen. Unten: Vor dem Keleti-Bahnhof wird es im Juli 2016 allenfalls zur Rush Hour ein wenig unruhig. © Getty Images | Jeff J Mitchell/Matt Cardy
Oben: Vielfach müssen ungarische Polizisten und Helfer im September 2015 entkräftete Flüchtlinge aus der großen Menschenmenge am Budapester Keleti-Bahnhof bergen und sie versorgen. Unten: Die Wartehallen im Keleti-Bahnhof .
Oben: Vielfach müssen ungarische Polizisten und Helfer im September 2015 entkräftete Flüchtlinge aus der großen Menschenmenge am Budapester Keleti-Bahnhof bergen und sie versorgen. Unten: Die Wartehallen im Keleti-Bahnhof . © Getty Images | Win McNamee/Matt Cardy
Oben: Der Vorplatz vor dem Haupteingang des Budapester Keleti-Bahnhofs ist Anfang September 2015 von Hunderten Flüchtlingen besetzt. Auf Plakaten und mit Sprechchören bitten sie vor allem Angela Merkel immer wieder um Hilfe. Unten: Große Flüchtlingsgruppen hat man im Juli 2016 am Keleti-Bahnhof schon länger nicht mehr gesehen.
Oben: Der Vorplatz vor dem Haupteingang des Budapester Keleti-Bahnhofs ist Anfang September 2015 von Hunderten Flüchtlingen besetzt. Auf Plakaten und mit Sprechchören bitten sie vor allem Angela Merkel immer wieder um Hilfe. Unten: Große Flüchtlingsgruppen hat man im Juli 2016 am Keleti-Bahnhof schon länger nicht mehr gesehen. © Getty Images | Matt Cardy
Oben: Nicht nur am Hafen, sondern im gesamten Stadtgebiet von Mytilene auf Lesbos warten Flüchtlinge im November 2015 auf ihre Weiterreise. Eines der vielen wilden Camps auf den griechischen Inseln liegt in einem Olivenfeld. Unten: Im Juli 2016 gibt es auf dem Olivenfeld in Mytilene nichts zu sehen als Olivenbäume.
Oben: Nicht nur am Hafen, sondern im gesamten Stadtgebiet von Mytilene auf Lesbos warten Flüchtlinge im November 2015 auf ihre Weiterreise. Eines der vielen wilden Camps auf den griechischen Inseln liegt in einem Olivenfeld. Unten: Im Juli 2016 gibt es auf dem Olivenfeld in Mytilene nichts zu sehen als Olivenbäume. © Getty Images | Milos Bicanski
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Vom „Septembermärchen“ 2015 und was daraus geworden ist – nach Berichten aus dem Kanzleramt, der CSU, der Koalition, aus Ungarn, Österreich, Brüssel, den Geheimdiensten, von Helfern und Neuankömmlingen.

Der Vorlauf

Im Frühjahr ertrinken an einem einzigen Tag fast 1000 Menschen im Mittelmeer, nachdem ihr Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien gekentert ist. Die EU-Staats- und Regierungschefs sind noch so mit dem griechischen Schuldendesaster beschäftigt, dass sie sich nicht kraftvoll der nächsten Krise stellen wollen – die viel schlimmer werden wird. Im Sommer verdoppelt sich die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge von Monat zu Monat. Im August sprechen die Behörden von vermutlich 800.000 Flüchtlingen 2015. Entlang der sogenannten Balkanroute drängen immer mehr Menschen nach Westeuropa.

26. AUGUST 2015: Erstmals in ihrer bis dahin zehnjährigen Kanzlerschaft besucht Merkel ein Flüchtlingsheim. Im sächsischen Heidenau. SPD-Chef Sigmar Gabriel war zwei Tage vor ihr da gewesen und hatte rechte Hetzer und Ausländerfeinde, die Steine geworfen hatten, als „Pack“ beschimpft.

Als Merkel aus ihrer schwarzen Limousine steigt, hört sie von der anderen Straßenseite Rufe. Reflexhaft setzt sie zum Winken an. Meistens jubeln Bürger ihr zu, wenn sie die Kanzlerin erkennen. Erst mit Verzögerung versteht sie, was gerufen wird: „Volksverräter.“ Sie kann solche Attacken gegen sich aushalten. Aber Hass und Gewalt gegen Menschen, die alles verloren haben, widern sie an. Das Grauen des Folgetages ahnt sie da noch nicht.

27. AUGUST: Österreichs Regierung richtet die Westbalkan-Konferenz aus, die sich um die Beziehungen der Balkanländer, Maßnahmen für einen EU-Beitritt und Migration kümmert. Kanzler Faymann mahnt bei der Eröffnung am Mittag zum Kampf gegen Schlepperbanden: „Wir haben gemeinsam die Pflicht, etwa jene, die an diesem Leid auch noch verdienen, in ihre Schranken zu weisen.“

Nur eine Stunde später, es ist kurz nach 13 Uhr, verbreitet sich die Schreckensnachricht, dass 40 Autominuten entfernt ein abgestellter Kühllaster mit ungarischem Kennzeichen entdeckt wurde. Seine Fracht: 71 Flüchtlinge – alle tot. Merkel sagt beklommen: „Das waren Menschen, die auf dem Weg waren, um mehr Sicherheit und Schutz zu suchen.“ Sie sieht den „reichen Kontinent“ Europa in der Pflicht, Flüchtlinge zu retten.

Europas Asylpolitik mit dem Dublin-Verfahren hält sie längst für wirklichkeitsfremd. Danach ist derjenige Staat für Asylverfahren zuständig, in dem Flüchtlinge erstmals EU-Boden betreten. Deutschland theoretisch also fast nie. Flüchtlinge, die es dennoch in ein anderes Land schaffen, sollen in ihr Einreiseland an der EU-Außengrenze zurückgebracht werden. In der Praxis funktioniert das schon lange nicht mehr. Deshalb hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschieden, das Verfahren bei Syrern „zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitestgehend faktisch nicht zu verfolgen“.

Gedacht als interne Anweisung, war die Vorgabe am 25. August an die Öffentlichkeit gelangt. Und hatte über soziale Medien auch Syrien erreicht – was viele als Einladung missverstanden. Merkel korrigiert den Kurs nicht. Syrer schreiben im Internet Liebesbotschaften an sie.

31. AUGUST: An einem herrlichen Sommertag gibt Merkel um 13.30 Uhr ihre traditionelle Jahrespressekonferenz. Sie trägt einen Blazer in kräftigem Rosé. Wie immer ist sie akribisch vorbereitet. Ihre Stimme ist fest, ihre Stimmung gut. Diesmal will sie eine Botschaft verkünden. Das Leid der Flüchtlinge lindern, dem C im Namen ihrer CDU die originäre christliche Bedeutung zumessen und das Land verändern.

Um 13.44 Uhr sagt sie: „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“ Wir schaffen das, dieser Satz wird ihre Kanzlerschaft prägen. Das ist schon in diesem Moment klar. Nie zuvor hat Merkel so an den Mut und die Herzen der Menschen appelliert. Und selbst so viel Courage und Wärme ausgestrahlt. Zeitgleich winkt Ungarn Flüchtlinge unregistriert gen Westen durch. Die Bundespolizei warnt in diesen Tagen intern, dass Zehntausende Flüchtlinge von Ungarn nach Deutschland wollen.

2. SEPTEMBER: Aylan Kurdi, syrisches Flüchtlingskind, drei Jahre alt, wird am Strand in Bodrum in der Türkei angespült. Tot. Auf der Flucht ertrunken. Sein Bruder und seine Mutter auch. Das Bild des Jungen geht um die Welt. „Es gibt so viele Aylans“, klagt einer aus der oberen Etage im Kanzleramt. Sie wissen dort um die Wucht der Bilder. Und werden doch selbst davon getroffen, von Aylan. Ungarn baut weiter an einem Zaun zu Serbien und lässt Flüchtlinge spüren, wie unerwünscht sie sind. In Budapest sitzen Tausende am Bahnhof fest, weil sie plötzlich nicht mehr weiterreisen dürfen. Es fehlt an allem.

3. SEPTEMBER: Ungarische Behörden locken Flüchtlinge und Migranten in einen vermeintlich zur Grenze fahrenden Zug. Doch die Polizei stoppt ihn nahe einem Lager. Panik bricht aus. Regierungschef Victor Orban sagt, Ungarn sei ein Land der Christen und wolle keine Muslime. Er spricht von einem „deutschen Problem“, weil die Flüchtlinge nicht in Ungarn bleiben, sondern nach Deutschland wollten. Merkel ist gerade in der Schweiz, in Bern, als sie das hört. Stocksauer lässt sie Orban wissen: „Deutschland tut das, was moralisch und rechtlich geboten ist.“ Ungarn nicht, steht zwischen ihren Zeilen. Frankreichs Staatschef François Hollande telefoniert viel mit Merkel. Sie vereinbaren eine Initiative für Flüchtlings-Aufnahmequoten in der EU. Orban will aber gar keine Menschen aufnehmen.

4./5. September, die Nacht der Entscheidung

8.30 Uhr: Merkel ist zur Besprechung – genannt Morgenlage – im Kanzleramt, bevor sie nach München fliegt. Nicht zur Gedenkfeier zum 100. Geburtstag des früheren bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Übervaters Franz Josef Strauß. Sondern zu einer Schule in Buch am Erlbach und einer Wissenschaftseinrichtung in Garching. Es gibt Befürchtungen, dass die Situation in Ungarn eskaliert. In einer Runde mit Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wird der Verdacht geäußert, Orban mache das mit Absicht, um Druck aufzubauen. Ein anderer sagt, dem Law-and-Order-Mann entgleite die Sache.

Vormittags: Viele Hundert Menschen machen sich an diesem Freitag vom Budapester Ostbahnhof zu Fuß auf in Richtung Österreich. Ein Mann auf Krücken trägt ein Bild von Merkel vor der Brust. Ein anderer Mann steht weinend vor Polizisten und ruft: „Ich will zu Mama Merkel.“

Mittags: Vor Journalisten sagt Regierungssprecher Steffen Seibert: „Der Umstand, dass Deutschland syrische Flüchtlinge derzeit nicht nach Ungarn zurückschickt (...), ändert nichts an der rechtlich verbindlichen Pflicht Ungarns, ankommende Flüchtlinge ordnungsgemäß zu registrieren, zu versorgen und die Asylverfahren unter Beachtung der europäischen Standards in Ungarn selbst durchzuführen.“

16.30 Uhr: Merkel ist nach Essen zu einer Veranstaltung der CDU Ruhr zur Oberbürgermeisterwahl gefahren. Sie warnt: „Es kann nicht sein, dass wir oder fünf Länder die ganze Last tragen.“ Dort werfen ihr Kritiker noch eine herzlose Flüchtlingspolitik vor. Ein Journalist beobachtet, wie eine Frau der Kanzlerin das Foto mit dem Flüchtlingsjungen Aylan zusteckt.

18.30 Uhr: Merkel ist mit dem Hubschrauber nach Köln geflogen, um auch bei „70 Jahre CDU“ dabei zu sein. Sie will die Christdemokraten bei der Ehre packen und erinnert an ihre Parteigründer: „Wenn die den ganzen Tag überlegt hätten, ob sie das nun schaffen, oder ob sie es nicht schaffen, dann wären wir heute nicht da, wo wir heute sind.“

Österreichs sozialdemokratischer Kanzler Faymann versucht, Merkel anzurufen. Er kann sie aber nicht erreichen, weil sie auf der Bühne steht. Er will sie bitten, in einem deutsch-österreichischen Akt der Humanität die Flüchtlinge erstmal einfach einreisen zu lassen. Sie stehen ja schon fast vor seiner Tür. Allein möchte er diesen Schritt nicht wagen und hofft auf die deutsche Amtskollegin.

Nach der CDU-Veranstaltung kommt das Gespräch zustande. Es geht um eine Ausnahmeregelung, alle Augen bei den Formalien zuzudrücken. Keine bürokratischen Hürden, keine großen Kontrollen. Bei den Geheimdiensten läuten die Alarmglocken. Sie fürchten, dass Terroristen ins Land kommen. Später machen sie die Erfahrung, dass sich Mörder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) durchaus gern registrieren lassen wollen, um die Flüchtlinge zu diskreditieren.

Gegen 20.30 Uhr: Merkel berät sich mit Altmaier, der auf dem Weg ins französische Evian zu einer Veranstaltung ist. Sie erwischt ihn am Genfer Flughafen. Informiert werden noch Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der mit hohem Fieber daniederliegt. Und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der gerade mit seinen EU-Amtskollegen in Luxemburg zusammensitzt.

Faymann telefoniert mit Orban, Merkel macht das erst am nächsten Abend. In Budapest tagt der Krisenstab der Regierung. Ungarns Kanzleiminister Janos Lazar sagt, alle gestrandeten Flüchtlinge sollten zur Westgrenze gebracht werden. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Aber einer steht noch auf Merkels Anrufliste: CSU-Chef Horst Seehofer.

Gegen 23 Uhr: Merkel wählt die Handy-Nummer des bayerischen Ministerpräsidenten. Er ist, so heißt es hinterher, in seinem Ferienhaus in Schamhaupten im Altmühltal. Aber er geht nicht ran. Altmaier wendet sich an die Amtschefin der Staatskanzlei, Karolina Gernbauer. Sie versucht ebenfalls erfolglos, Seehofer ans Telefon zu bekommen. In Merkels Umfeld versteht man nicht, wie ein Ministerpräsident nicht erreichbar sein kann. Gernbauer zieht nicht das Register, die Polizei zu kontaktieren, damit diese Seehofer rausklingelt. Schließlich sagt Merkel Faymann zu, ohne den dritten Koalitionspartner, den Chef der Schwesterpartei CSU und Ministerpräsidenten jenes Landes gesprochen zu haben, in dem Stunden später Tausende Flüchtlinge ankommen werden.

00.42 Uhr: Eilmeldung der Deutschen Presse-Agentur: „Die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge können nach Österreich und Deutschland einreisen.“ Faymann sagte das kurz zuvor Österreichs Nachrichtenagentur APA unter Verweis auf die Abstimmung mit Merkel.

1.20 Uhr: Vize-Regierungssprecher Georg Streiter bestätigt der dpa, dass die Entscheidung nach Gesprächen am Freitagabend gefallen ist. Etwa zeitgleich kommt bereits ein erster Bus mit Flüchtlingen aus dem ungarischen Zsambek nahe Budapest an der österreichischen Grenze an. Die Menschen gehen zu Fuß auf die andere Seite und werden von Österreichern mit Applaus, Willkommensplakaten und Essen begrüßt.

Gegen 8 Uhr: Seehofer meldet sich bei Merkel. Er sagt später der dpa: „Ich habe dann morgens gegen 8 Uhr mit ihr telefoniert und gesagt, dass ich die Entscheidung für einen Fehler halte. Und sie hat geantwortet: Da bin ich jetzt aber betrübt, dass du das so siehst.“ Seehofer ist zutiefst getroffen. Für ihn ist das ein Vertrauensbruch. „Ich hätte nie eine solche Entscheidung ohne den Koalitionspartner getroffen. Die Politik des Durchwinkens ist am 4. September autorisiert worden.“ Das Verhältnis wird in dieser Nacht zerstört.

9.00 Uhr: Altmaier informiert von Evian aus per Telefonschalte die Chefs der Staatskanzleien der Länder. Die Merkel-Faymann-Vereinbarung lautet: „Aufgrund der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu, unter Beibehaltung der Dublin-Kriterien bis zum Beschluss eines besseren Systems.“ Altmaiers Zuhörer sind verstimmt, dass sie in die Entscheidung nicht einbezogen wurden, nun aber die Menschen versorgen müssen.

Nachmittags: Seehofer beruft eine Telefonschalte des CSU-Präsidiums ein. Die Partei kritisiert Merkels Vorgehen als falsche Entscheidung. Präsidiumsmitglieder warnen vor einer „zusätzlichen Sogwirkung“.

Abends: Streiter teilt nach dem Merkel-Orban-Telefonat mit, die Aufnahme der Flüchtlinge sei „eine Ausnahme aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze“ gewesen. „Wir haben jetzt eine akute Notlage bereinigt.“ In München kommen an dem Wochenende etwa 20 000 Menschen an.

Der Fortgang

Zwei, die zusammenhalten müssten, haben sich gründlich entzweit: die Chefs der Schwesterparteien CDU und CSU, Merkel und Seehofer. Die Kanzlerin wird in Teilen des Auslands für ihre Geste der Offenheit gefeiert. Viele Behörden jedoch sind überfordert, freiwillige Helfer geraten an ihre Grenzen. Rechtspopulisten – darunter die Alternative für Deutschland – bekommen Zulauf und viele Bürger Angst. Die große Koalition verschärft im Herbst 2015 das Asylrecht.

In der Silvesternacht werden Frauen in mehreren deutschen Städten, am schlimmsten in Köln, von Migranten und Asylbewerbern sexuell belästigt. Ein großer Teil soll aus Nordafrika stammen. Zweifel an Willen und Fähigkeit zur Integration wachsen. Merkels Umfragewerte sinken. Österreich ändert seine Flüchtlingspolitik, im Mai tritt Kanzler Faymann zurück. In Ansbach und Würzburg verüben Flüchtlinge im Sommer 2016 islamistisch-motivierte Anschläge. 20 Menschen werden verletzt.

27. JULI 2016: In der Berliner Flüchtlingshilfe „Moabit hilft“ trifft sich der 20-jährige Saman aus der nordsyrischen Grenzstadt Kamischli mit Freunden. Er ist seit über einem Jahr in Deutschland und träumt von einer Ausbildung. Geflohen ist er, wie er sagt, weil er für das Assad-Regime oder den IS hätte kämpfen, „in jedem Fall Menschen töten müssen“.

Betreuerin Christiane Beckmann sagt: „Die Flüchtlinge kommen trotz ihrer Erschöpfung mit unglaublich viel Elan hier an.“ Sie müssten sofort beschäftigt werden, Deutsch lernen, Arabisch lehren. Aber hier gucken sie erst einmal gegen die Wand.“ Die Bürokratie sei eine Last. Ihre Kollegin Diana Henniges ergänzt: „Sie stellen sehr schnell fest, dass „Mama Merkel“ eine Vision war.“

Plötzlich sind Saman und seine Freunde aufgeregt. Sie schauen sich auf dem Handy ein Video von einer Bombardierung mit Toten und Verletzten an. Samans Augen zucken. Das Video wurde am Morgen aufgenommen. In Kamischli.

28. JULI 2016: Merkel unterbricht wegen der Anschläge in Bayern ihren Urlaub und zieht ihre für August geplante Sommer-Pressekonferenz vor. Sie nennt die Anschläge eine Verhöhnung Deutschlands und der vielen Helfer sowie der Flüchtlinge. Sie sagt: „Das Ganze stellt uns auf die Probe.“ Aber ihre Botschaft bleibt: „Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen, unserer historischen Aufgabe (...) gerecht zu werden.“

CSU-Chef Seehofer sagt dazu: „So wie bisher schaffen wir es nicht.“ Den Bruch mit Merkel will er nicht. Er sieht keine Alternative zu ihr als Kanzlerin.