Interview

Bundesnetzagentur-Chef: "Verbraucher werden schockiert sein"

| Lesedauer: 12 Minuten
Das bedeutet die Gas-Alarmstufe

Das bedeutet die Gas-Alarmstufe

Deutschland hat die zweite Stufe im Notfallplan Gas wurde ausgerufen. Was die Alarmstufe bedeutet, erklärt das Video.

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Berlin/Bonn.  Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller über einen Totalausfall von russischem Gas, die horrenden Preise – und wer jetzt bangen muss.

  • Die Bundesnetzagentur ist angesichts der gedrosselten Gas-Lieferungen aus Russland beunruhigt
  • Chef Klaus Müller stimmt die Deutschen auf eine sich möglicherweise verschärfende Lage ein
  • Im Interview spricht er darüber, welche Branchen bei Gas-Mangel systemrelevant sind

Wie Deutschland die Gaskrise meistert, hängt ganz wesentlich von diesem Mann ab: Klaus Müller, neuer Präsident der Bundesnetzagentur – jener Behörde, die für die zentralen Lebensadern unseres Landes verantwortlich ist: Gas, Strom, Telekommunikation, Post und Eisenbahn. Im Interview mit unserer Redaktion gibt Müller einen düsteren Ausblick.

Deutschland fürchtet um seine Gasversorgung. Wie ernst ist die Lage?

Klaus Müller: Die Lage ist angespannt, wenn nicht sogar sehr angespannt. Russland hat sich über Jahrzehnte – ganz gleich, wie schlecht die Beziehungen waren – an geltende Verträge gehalten. Das ist seit einigen Tagen anders. Russland hat die Lieferung durch die wichtigste Gasader – Nord Stream 1 – nach Deutschland und Europa um 60 Prozent gedrosselt. Die technischen Gründe, die dafür genannt werden, überzeugen uns nicht.

Mitte Juli will der russische Staatskonzern Gazprom die Pipeline Nord Stream 1 – wie jeden Sommer – einer zehntägigen Wartung unterziehen. In dieser Zeit strömt kein Gas durch diese Pipeline nach Deutschland. Was passiert danach?

Müller: Genau das beunruhigt uns in der Bundesnetzagentur und löst bei Tausenden Industriebetrieben erhebliche Nervosität aus. Wir fragen uns, ob aus dieser technischen Wartung eine länger andauernde politische Wartung wird. Ich empfehle jedem die martialische Rede von Präsident Putin auf dem Petersburger Wirtschaftsgipfel. Putin hat deutlich gemacht, dass jetzt nach russischen Regeln gespielt wird. Diese Begleitmusik haben wir mit großer Sorge gehört. Deswegen hat Minister Habeck auch die Alarmstufe ausgerufen. Die Lage kann noch schlimmer werden.

Die Vorgabe lautet, die Gasspeicher bis 1. November zu 90 Prozent zu füllen. Ist das noch zu schaffen?

Müller: Die Ampelkoalition hat die Marktgebietsverantwortlichen mit 15 Milliarden Euro ausgestattet, damit Gas eingekauft und eingespeichert werden kann – zu extrem hohen Preisen. Außerdem sind vier schwimmende Flüssiggasterminals gechartert worden, zwei davon sollen in diesem Winter in Betrieb genommen werden. Aber wenn im Zuge der Wartung der Gasfluss aus Russland politisch motiviert länger anhaltend abgesenkt wird, müssen wir ernsthafter über Einsparungen reden. Mit diesem Appell macht man sich im Sommer, wenn die Menschen ins Freibad wollen und Grillfeste feiern, nicht besonders beliebt. Aber wir müssen die zwölf Wochen bis zum Beginn der Heizsaison nutzen, um alle Vorbereitungen zu treffen.

Worum geht es?

Müller: Es geht zunächst darum, aus freien Stücken Gas zu sparen – vor allem mit einer optimalen Heizungseinrichtung. Meinen wichtigsten Appell richte ich an alle Haus- und Wohnungsbesitzer: Lassen Sie Ihre Gasbrennwertkessel und Ihre Heizkörper überprüfen und effizient einstellen. Eine Wartung kann den Gasverbrauch um zehn bis 15 Prozent senken. Das muss jetzt passieren und nicht erst im Herbst. Die Kosten halten sich im niedrigen dreistelligen Bereich. Um Engpässe bei den Handwerkerterminen zu überwinden, werbe ich sehr dafür, dass sich alle Handwerker stark auf Heizung und Warmwasserversorgung konzentrieren. Außerdem ist der Familienrat gefragt: In den Familien sollte jetzt schon darüber geredet werden, ob im Winter in jedem Raum die gewohnte Temperatur eingestellt sein muss – oder ob es in manchen Räumen auch etwas kälter sein kann.

Was ist mit Klimaanlagen?

Müller: Energiesparen ist generell nicht verkehrt. Aber wir müssen differenzieren. Die Krisensituation bezieht sich auf Gas – und nicht auf Strom. Die Bundesregierung ist dabei, die Stromerzeugung von Gas- auf Kohlekraftwerke umzustellen, auch wenn das klimapolitisch nicht gut ist. Nach unseren Prognosen stehen wir daher nicht vor einer Stromlücke. Wir haben auch keine Mangellage bei Benzin und Öl. Das ist alles verfügbar. Ich werbe dafür, den Blick auf Gas zu fokussieren.

Bleibt der Staat bei Freiwilligkeit – oder werden die Bürger per Gesetz zum Sparen verpflichtet?

Müller: Darüber wird die Politik entscheiden – und das rechtzeitig. Wenn wir uns erst in der Heizphase damit befassen, ist es zu spät. Ich persönlich würde mir wünschen, dass die Steuerung mehr über Preise und weniger über Verbote erfolgt. Aber ich bezweifle, dass jeder täglich auf die Gasbörse schaut und die richtigen Schlüsse für sein Leben daraus zieht.

Wann erlauben Sie den Energieversorgern, die gestiegenen Preise auf die Verbraucher abzuwälzen? Die sogenannte Preisanpassungsklausel könnten Sie jetzt schon aktivieren.

Müller: Heute ist noch nicht der Zeitpunkt. Voraussetzung wäre, dass wir förmlich eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen feststellen. Die Wartung von Nord Stream 1 wird bei dieser Frage eine wichtige Rolle spielen.

Die Versorger dürften die Preise dann – so steht es im Gesetz – auf ein „angemessenes Niveau“ heben. Was bedeutet das?

Müller: Wie gesagt: Die Preisanpassungsklausel greift im Moment nicht. Aber für viele Gasimporteure ist momentan eine absolute Stressphase. Sie sind als erste von den Lieferausfällen betroffen, müssen aber gleichzeitig alle Verträge zu den vereinbarten Preisen erfüllen. Dadurch entsteht bei den Unternehmen eine dramatische Preis-Kluft. Im Sommer 2021 hatten wir Gaspreise von 20 bis 30 Euro pro Megawattstunde. Vor der Drosselung bei Nord Stream 1 haben sie sich bei 80 Euro eingependelt. Und jetzt liegen sie über 130 Euro. Also hat sich der Gaspreis an der Börse seit letztem Sommer ungefähr versechsfacht. Diese Preiserhöhungen kommen erst zeitverzögert bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an. Und sie werden auch nicht eins zu eins ankommen. Aber wir haben heute schon eine Verdoppelung der Verbraucherpreise. Durch das, was Putin uns bei Nord Stream 1 beschert, ist eine Verdreifachung drin. Und wir können nur mutmaßen, wie es weitergeht. Viele Verbraucher werden schockiert sein, wenn sie Post von ihrem Energieversorger bekommen.

Wie hilft der Staat?

Müller: Der Staat wird nicht alles ausgleichen können. Aber er muss diejenigen, die es wirklich nötig haben, gezielt unterstützen. 16 Jahre Verbraucherschutz haben mich gelehrt: Viele Menschen können selbst minimale zusätzliche Belastungen nicht stemmen. Für sie ist jede Erhöhung der Gasrechnung eine Bedrohung ihres elementaren Lebensalltags. Ich bin sicher, die Bundesregierung wird eine angemessene Antwort diskutieren.

Können Sie ausschließen, dass Privathaushalte im kommenden Winter von der Gasversorgung abgeschnitten werden?

Müller: Ich kann zusagen, dass wir alles tun, um zu vermeiden, dass Privathaushalte ohne Gas dastehen.

Das klingt nicht so beruhigend.

Müller: Wir haben aus der Corona-Krise gelernt, dass wir keine Versprechungen geben sollten, wenn wir nicht ganz sicher sind, dass wir sie halten können. Wir sehen allerdings kein Szenario, in dem gar kein Gas mehr nach Deutschland kommt. Aus Norwegen und aus den Niederlanden und aus Amerika über Flüssiggas-Terminals in Belgien und in den Niederlanden und hoffentlich demnächst auch an der deutschen Küste können wir versorgt werden. Und wir legen Reserven für den Winter an – unsere Gasspeicher sind aktuell zu 60 Prozent gefüllt. Die europäische Rechtslage ist eindeutig: Privathaushalte werden besonders geschützt – ebenso Krankenhäuser oder Pflegeheime zum Beispiel. Wenn es zu einer Rationierung kommt, müssen wir zuerst im industriellen Bereich den Verbrauch reduzieren.

In welcher Reihenfolge drehen Sie den Unternehmen das Gas ab?

Müller: Wir wollen das vermeiden. Aber wenn es tatsächlich so weit kommt, orientieren wir uns am betriebswirtschaftlichen Schaden, am volkswirtschaftlichen Schaden, an den sozialen Folgen und auch an den technischen Anforderungen des Gasnetzbetriebs. Dazu wollen wir Daten der größten industriellen Verbraucher in eine IT-Plattform überführen, die uns leider erst im Herbst zur Verfügung steht. Damit können wir dann bestenfalls die Schäden in der Industrie möglichst gering halten. Denn es ist völlig klar: Es gibt in einer solchen Situation keine guten Entscheidungen, nur solche, die weniger schlecht sind.

Welche Branchen stufen Sie als systemrelevant ein?

Müller: Ich bekomme Briefe aus allen Branchen – und jedes Unternehmen bezeichnet sich als systemrelevant. Aber wenn wir eine Gasmangellage vorbereiten, können wir nicht jeden Betrieb als systemrelevant einstufen. Ich sage mal so: In kritischen Bereichen wie Teilen der Lebensmittel- und Pharmabranche müssen wir sehr vorsichtig sein. Dagegen wären Produkte und Angebote, die in den Freizeit- und Wohlfühlbereich fallen, eher nachrangig. Schwimmbäder gehören wohl nicht zum kritischen Bereich, genauso wie die Produktion von Schokoladenkeksen.

Was ist mit Zeitungen?

Müller: Pressefreiheit ist ein hohes Gut. In einer Gasnotlage wäre der Informationsbedarf der Menschen extrem hoch. Die Papierindustrie ist wichtig für die Herstellung von Zeitungen und auch für die Verpackung von Arzneien und Lebensmitteln. Aber ich kann Entscheidungen in einer Gasnotlage hier nicht vorgreifen.

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat den Vorrang der Privathaushalte vor der Industrie infrage gestellt – nach dem Motto: Lieber frieren als arbeitslos. Was entgegnen Sie?

Müller: Ich glaube nicht, dass die europäische Verordnung, die den Vorrang der privaten Verbraucher regelt, in dieser akuten Situation zur Diskussion gestellt werden sollte. Der Königsweg lautet: Massiv Gas zu sparen, damit wir den nächsten und auch den übernächsten Winter überstehen. Ich wünsche mir Löwen, die mutig handeln. Und keine Sträuße, die ihren Kopf in den Sand stecken.

Industriepräsident Siegfried Russwurm warnt: Die Gasversorgung steuert am Ende nicht die Bundesnetzagentur, sondern die Physik – und es sei nicht sicher, ob das Gas überhaupt noch im Süden ankommt, wenn es im Norden angeliefert wird. Hat er damit recht?

Müller: Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zum Strom ist: Gas muss fließen. Wir werden eine neue Nord-Süd-Verantwortung schultern müssen. Bisher sind die Gasflüsse mehr oder weniger gleichmäßig verteilt. Russisches Gas kommt auch über Tschechien in Süddeutschland an. Damit war das Verhältnis des zur Verfügung stehenden Gases gut austariert. Das könnte sich ändern, sollten wir nur noch Gas aus Norwegen, den Niederlanden oder Belgien erhalten. Deshalb nutzen wir die bereitgestellten 15 Milliarden Euro, um die Speicher schon jetzt so zu füllen, dass auch der Süden ausreichend versorgt werden kann. Derzeit legen wir zum Beispiel nicht nur einen Fokus auf den größten deutschen Speicher in Rehden in Niedersachsen, sondern auch auf den Speicher in Wolfersberg in Bayern.

Sollte zu wenig Gas ankommen, würden sich die Sicherheitsventile schließen. Was würde in einem solchen Szenario passieren?

Müller: In dem Moment, in dem der Druck im Gasnetz in einer Region unter ein gewisses Mindestmaß fallen würde, würde auf einen Schlag in Hunderttausenden Gasthermen die Sicherung einspringen. Die müsste händisch von geschulten Fachkräften wieder freigeschaltet werden, wenn wieder Gas in der Region verfügbar wäre. Ein solches Szenario kann niemand wollen, weil es sehr lange dauern würde, die Gasversorgung wiederherzustellen. Also wird es immer das Ziel der Bundesnetzagentur sein, notfalls Reduzierungen beim industriellen Verbrauch anzuordnen, damit dieses Szenario nicht eintritt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.