Berlin. Die Ampel-Parteien haben sich geeinigt. Von Aufbruch ist die Rede, aber wenig zu spüren. Über eine Vertragsvorstellung wie beim Notar.

Das könnte ein Lächeln gewesen sein, die Andeutung davon, die Zuckung eines Geschmeichelten. Einen flüchtigen Moment lang weicht die Spannung von Olaf Scholz, von dem Mann, über den FDP-Chef Christian Lindner neben ihm soeben gesagt hat, er werde „ein starker Bundeskanzler sein.“

Mittwoch, gegen 15 Uhr, es ist so weit: Die Ampel steht. SPD, FDP und Grünen stellten ihren fast 180 Seiten langen Koalitionsvertrag vor. Vom Kanzleramt trennen Sozialdemokrat Scholz die Zustimmung der Basis von SPD, FDP und Grünen sowie seine Kanzlerwahl in der ersten Dezemberwoche. Nach Lage der Dinge: kein großer Hürdenlauf.

Die „Ampel“ erinnert an Willy Brandt

Auf dem Großbildschirm hinter Scholz steht „mehr Fortschritt wagen“. Das ist ihr Motto – und eine Anleihe bei Willy Brandt, der Ende der 60er mehr Demokratie wagen wollte. Die Partner reden von „Aufbruch“, von „Chancen“, der Grüne Robert Habeck von einem „Dokument der Zuversicht“. Aber die Begriffe passen nicht zu den angestrengten Gesichtern: Selten ist eine Koalition so geschäftsmäßig gestartet.

Habeck erzählt, sie hätten sich „viel zugemutet“, stundenlang um Sätze gerungen, sagt Lindner. Die Verhandlungen seien so kontrovers wie diskret gewesen. Es scheint, als wollten sie Zeugnis ablegen über eine Qual. Einerseits.

Im Blitzlichtgewitter: Christian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD-Kanzlerkandidat), Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne), Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (SPD).
Im Blitzlichtgewitter: Christian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD-Kanzlerkandidat), Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne), Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (SPD). © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Andererseits ist es verdammt schwer zu ergründen, was in Scholz vorgeht. Er bringt die gute einstündige Vorstellung des Koalitionsvertrages mit einem und denselben Ausdruck hinter sich, mit einem Buttler-Gesicht.

Er erinnerte daran, dass die erste Verkehrsampel 1924 in Berlin eingeführt wurde, damals eine ungewöhnliche Technik, heute nicht mehr aus der Welt zu denken. Sie sorgt dafür, dass alle zügig und problemlos vorankommen - eine ähnlich wegweisende Rolle sieht er auch für die politische Ampel anno 2021.

Eine schöne Metapher, für einen wie Scholz eine rhetorische Extravaganz. Am Nachmittag hatten die Parteien zur Vorstellung des Vertrages in eine denkmalgeschützte ehemalige Lagerhalle des Westhafens Berlin eingeladen, früher ein Industriegebäude, heute eine so genannte Eventlocation. Im großen Saal mit seinem schätzungsweise 800 Quadratmetern ist eine kleine Bühne mit vier Pulten aufgestellt.

Die Liberalen haben sich durchgesetzt

Nach Scholz und Habeck ergreift Lindner das Wort. Wer ihm zuhört, kommt auf den Gedanken, er müsste seinen Partnern gut zureden. Einmal sagt er, SPD und Grünen könnten „stolz“ sein auf das, was sie in die Koalitionsvertrag hineinverhandelt hätten. Die Liberalen hätten Scholz neu kennengelernt, als eine starke Führungspersönlichkeit, einen Mann mit Werten, mit einer Haltung, mit einem inneren Geländer, an dem er sich halten kann.

Im Nachhinein fällt einem auf, dass Lindner sich als einziger erkennbar für Scholz begeistert, sogar mehr noch als die beiden SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Als es um ein Kernstück der Übereinkunft geht, um den Klimaschutz, behauptet er, die Koalition hätte das ambitionierteste Klimaschutzprogramm einer Industrienation – und würde alles tun, was politisch und ökonomisch erreichbar sei.

Das soll dann wohl heißen: Kopf hoch, ihr Grünen. Denn: Die gängigste Lesart des Koalitionsvertrages ist, dass sich die Liberalen durchgesetzt haben. Die FDP-Gremien haben mittags Lindner schnell klargemacht, dass sie sowohl dem Vertrag als auch den vier Ministerien zustimmen, die für sie abfallen: Finanzen, Justiz, Verkehr und Bildung. Es sind die Grünen, die ihre Mitglieder befragen und ihnen Vertrag erst einmal erklären müssen.

Am Morgen hatten sich die Unterhändler schlussendlich über die Verteilung der Ministerien geeinigt, sechs für die SPD, fünf für die Grünen, vier für die FDP. Danach wurde miteinander angestoßen, nicht mit Sekt, sondern mit Bier, wahlweise alkoholfrei – was zum nüchternen Miteinander passt.

Scholz will einen Sonderparteitag am 4. Dezember abwarten und so lange nicht verraten, wer für die SPD ins Kabinett geht; vielleicht sogar darüber hinaus bis zur Kanzlerwahl. Es sei nicht mit jedem Kandidaten gesprochen werden.

Die Pandemie als Bewährungsprobe

Das liegt auch daran, dass Scholz ein paritätisch mit Frauen und Männern besetztes Kabinett anstrebt. Da die FDP drei Männer und nur eine Frau aufbietet, gleicht die SPD die Quote aus. Dazu kommt, dass die Grünen erwägen, drei Männer und zwei in die Regierung zu entsenden, was wiederum dazu führen würde, dass die Sozialdemokraten die Quote erneut ausgleichen. Nach derzeitigem Stand stellt die SPD drei Männer und fünf Frauen.

Priorität hat freilich die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Scholz kündigte mehrere Maßnahmen an, unter anderem einen ständigen Krisenstab und einen Expertengruppe, die täglich für das Kanzleramt die Lage analysiert. Damit machte der designierte Kanzler klar, dass der Infektionsschutz Chefsache ist. Und seine erste große Bewährungsprobe.