Berlin. Vertane Chance: Nach einer eindringlichen Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj blamiert sich der Bundestag, meint Diana Zinkler.

Olaf Scholz twitterte seinen Dank drei Stunden später – er muss wohl an den vielen negativen Reaktionen gemerkt haben, dass es angebracht ist, auf einen Präsidenten, der in Kiew um sein Überleben und das seines Volkes kämpft, einzugehen.

Auch beim etwas späteren Zusammentreffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte der Bundeskanzler endlich: „Wir stehen an der Seite der Ukraine.“ Doch da war das Kind schon in den Brunnen gefallen.

Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin
Diana Zinkler, Politik-Korrespondentin © Krauthoefer | Krauthoefer

Eine unbeholfene Nicht-Aktion

Norbert Röttgen sprach vom „würdelosesten Moment im Bundestag“, den er je erlebt habe. „Unerträglich“, kommentierte Dorothee Bär. Diese unbeholfene Nicht-Aktion war ein gefundenes Fressen für die Opposition.

Und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz kritisierte gleich im Bundestag: „Wir sind damit nicht einverstanden, wie Sie das hier heute Morgen machen!“ Statt die Situation in der Ukraine neu zu bewerten, habe der Bundestag gemäß der Tagesordnung über die Besetzung des Beirats des „Hauses der kleinen Forscher“ gesprochen.

Und viele Unionsgegner sahen sich plötzlich Seite an Seite mit Friedrich Merz.

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Eine mögliche Sternstunde fiel aus

Was war passiert? Nachdem der ­ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Bundestag am Morgen zugeschaltet war und Deutschland angefleht hatte, den Ukrainern zu helfen, kam leider nichts von Olaf Scholz. Es folgte keine Debatte im Bundestag, eine mögliche Sternstunde der Parlamentarier – sie fiel aus. Am steifen Protokoll wurde festgehalten.

Im Amerikanischen gibt es Worte für solche Momente: „cringe“ oder mindestens „awkward“. Im Deutschen passt am ehesten: Es war zum Fremdschämen.

Nach ergreifender 15-minütigen Erklärung zur Tagesordnung

Stattdessen übernahm Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne)wieder den Platz am Mikrofon und ging nach der ergreifenden 15-minütigen Erklärung Selenskyjs zur Tagesordnung über. Zwei Abgeordnete hatten Geburtstag, denen musste man gratulieren. Begleitet wurden ihre Worte von Zwischenrufen, nicht jeder im Parlament ertrug dieses business as usual.

Und schon gar nicht die anschließende Debatte zur Impfpflicht. Dann folgte die „sichere Energieversorgung“, dann das Thema „30 Jahre Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“.

Selenskyj: Geschichte darf sich nicht wiederholen

Gerechtfertigt wurde die Nicht-Reaktion auf Selenskyj beispielsweise von der SPD-Abgeordneten Katja Mast damit, dass man die Worte erst mal habe auf sich wirken lassen wollen. Leider geschah auch das nicht. Kaum nachdem Selenskyj vom Bildschirm verschwunden war, folgten die Geburtstagswünsche.

Eine weitere Rechtfertigung der Ampel-Koalitionäre: Auch im britischen Unterhaus und im US-Kongress seien nach Selenskyjs Videobotschaften keine Aussprachen gefolgt.

Das stimmt – aber der Ukrainer sprach Scholz im Bundestag direkt an. Er sagte: „Täglich wiederholen die Politiker ,Nie wieder‘. Und jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind.“ Er wandte sich eindringlich an die Abgeordneten, die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen. Gemeint war die deutsche Geschichte.

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Mangelnde Feinfühligkeit

Das sind fordernde Worte, deren Botschaft ist: Ihr dürft euch nicht aus der Verantwortung ziehen! Auf diese Botschaft hätte der Bundestag reagieren müssen, direkt. Warum das nicht passiert ist, lässt sich vielleicht am ehesten mit mangelnder Feinfühligkeit erklären. Und einer vertanen Chance.

Entsprechend leblos dann das Twitter-Statement von Olaf Scholz: „Ich danke @ZelenskyyUa (Wolodomyr Selenskyi) für seine eindringlichen Worte im Bundestag. Wir sehen: Russland treibt seinen grausamen Krieg jeden Tag weiter, mit schrecklichen Verlusten. Wir fühlen uns verpflichtet, alles zu tun, damit die Diplomatie eine Chance hat und der Krieg beendet wird.“ Na, dann.

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