Berlin. Fast 175.000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind seit Beginn des Krieges nach Deutschland gekommen. Doch die bundesweite Verteilung stockt.

Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Seit Russlands Überfall auf die Ukraine haben fast drei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, um sich vor den Bomben in Sicherheit zu bringen.

Auch in Deutschland steigt die Zahl der Schutzsuchenden aus der Ukraine rapide. Bund und Länder wollen daher an diesem Donnerstag gemeinsam beraten, wie die Flüchtlinge in den kommenden Monaten bundesweit untergebracht und versorgt werden können.

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Joachim Herrmann (CSU), sowie die Hilfsorganisation Pro Asyl gehen davon aus, dass ein Teil der Geflohenen sogar auf Dauer in Deutschland bleiben wird, falls eine Rückkehr in die Ukraine künftig nicht möglich sein sollte. Das würde bedeuten, dass auf die Erstversorgung die Integration am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem folgt. Das Land steht vor einem weiteren Kraftakt.

Wie viele ukrainische Flüchtlinge gibt es bisher in Deutschland?

Die Bundespolizei hat bis Mittwoch fasst 175.000 Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet registriert, das waren rund 15.000 Neuankömmlinge binnen eines Tages. Hinzu kommen viele, die privat einreisen und noch nicht offiziell gemeldet sind. Die tatsächliche Zahl dürfte also höher sein.

Die große Mehrzahl der Menschen kommt derzeit in Berlin an. Tausende sind es jeden Tag. Die meisten von ihnen werden in provisorischen Sammelunterkünften untergebracht. Die Verteilung auf andere Regionen in Deutschland läuft dagegen schleppend. Das Land Berlin fordert daher mehr Engagement der anderen Länder.

Giffey: „Berlin nimmt den größten Anteil an Geflüchteten aus der Ukraine auf“

„Berlin nimmt aktuell im bundesweiten Vergleich den größten Anteil an Geflüchteten aus der Ukraine auf“, sagte die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD). Alle Bundesländer müssten jetzt in föderaler Solidarität und vor allem mit Unterstützung des Bundes zusammenarbeiten, um zu einer guten Koordination und gerechteren Verteilung zu kommen.

Giffey forderte vor dem Bund-Länder-Treffen konkrete weitere Hilfen: „In dieser akuten Lage erwarten wir zusätzliche klare Zusagen vom Bund in Bezug auf organisatorische, personelle und auch finanzielle Unterstützung, die wir nicht nur in Berlin dringend benötigen.“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wies derweil Kritik an mangelnder Unterstützung der Länder zurück. „Der Bund unterstützt die Länder massiv“, sagte sie am Mittwoch im Bundestag. Sie stehe auch mit den Kommunen in engem Kontakt. Gemeinsam tue man „alles dafür, um den Kriegsflüchtlingen schnell und umfassend zu helfen“.

Welchen Status haben die Flüchtlinge?

Menschen mit ukrainischem Pass benötigen kein Visum für Deutschland und dürfen sich somit nach der Einreise wie Touristen 90 Tage in Deutschland aufhalten und ihren Aufenthaltsort frei wählen. Sie können also auch zu Verwandten und Bekannten in Deutschland ziehen.

Eine zentrale Steuerung der Verteilung aufs Bundesgebiet wird dadurch komplizierter. Lassen sich die Menschen als Kriegsflüchtlinge registrieren, erhalten sie gemäß der jüngst aktivierten Massenzustrom-Richtlinie der EU Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zunächst für ein Jahr. Sie bekommen ferner Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und finanzieller Unterstützung.

Wie ist die Verteilung im Land geregelt?

In den Wochen kurz nach Beginn des Kriegs war kein einheitlicher Mechanismus in Kraft, was besonders in Berlin zu teils chaotischen Zuständen führte. Ender der vergangenen Woche wurde schließlich vom Bund entschieden, verstärkt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel festzulegen, in welchem Bundesland jemand untergebracht wird.

Kriterien dieser Quotenregelung sind Größe und Wirtschaftskraft eines Landes. Der Schlüssel kann aber nicht für jene greifen, die unregistriert sind. Zudem ist das Verfahren umstritten. Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt kritisiert, dass dadurch die Integration erschwert werde. Es sei sinnvoll, wenn Geflüchtete bei Angehörige unterkämen, „denn Familie hilft bei der Integration“, sagte Burkhardt unserer Redaktion.

Pro Asyl: Familie hilft Flüchtlingen aus der Ukrainern bei der Integration

Das gelte für Spracherwerb, Arbeitssuche und generell für das Einleben in einem neuen Alltag. „Wir sollten die Kriegsflüchtlinge daher nicht bürokratisch und streng nach Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilen, wie wir es 2015 gemacht haben.“

Ansonsten dauere die Integration länger. Regionen und Kommunen, die aufgrund größerer ukrainischer Communities mehr Menschen aufnähmen, sollten entsprechend mehr finanzielle Unterstützung vom Bund bekommen, schlug Burkhardt vor.

Welche Sozialleistungen erhalten die Flüchtlinge?

Nach derzeitigen Vorgaben des Bundesinnenministeriums sollen Ankömmlinge aus der Ukraine nach dem Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden. Eine alleinerziehende Mutter würde demnach 367 Euro pro Monat bekommen – deutlich weniger als die 449 Euro, die einem Hartz-IV-Empfänger zustehen.

Hinzu kommen geringere Sätze für Kinder und Jugendliche. Begründet dies damit, dass Flüchtlinge mehr Sachleistungen gestellt bekommen. Die Kosten aus dem Asylbewerberleistungsgesetz tragen die Bundesländer.

Was ist jetzt anders als im Flüchtlingsherbst 2015?

Ein zentraler Unterschied ist, dass damals sehr viele junge Männer kamen. Jetzt sind es dagegen viele Angehörige so genannter vulnerable Gruppen: Mütter, Kinder und ältere Menschen. Das verändert die Anforderungen an die Hilfe, etwa im medizinischen Bereich. Denn in der Regel benötigt diese Gruppe eine intensivere ärztliche Versorgung. Hinzu kommt die Pandemie.

Das Risiko von Corona-Ansteckungen in vollen Sammelunterkünften ist groß. Überdies stellt die hohe Zahl von Kindern einen Stresstest für das Bildungssystem dar. Schon bald werden tausende Plätze an Schulen und in Kitas gebraucht.

Im Gegensatz zu 2015 können viele der Neuankömmlinge nun auch rasch arbeiten könnten - theoretisch zumindest. Tatsächlich müsste auch hier zunächst sichergestellt sein, dass die ukrainischen Mütter eine gesicherte Betreuung für ihre Kinder haben.

Wie lange werden die Menschen in Deutschland bleiben?

Herrmann geht aber davon aus, dass ein Teil der ukrainischen Kriegsflüchtlinge auf Dauer in Deutschland bleiben wird. „Auch wenn wir die weitere Entwicklung des Kriegs nicht absehen können und gemeinsam hoffen, dass der Konflikt schnell endet und die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können, müssen wir uns auf eine dauerhafte Unterbringung einstellen“, sagte Herrmann unserer Redaktion.

Der Bund dürfe die Länder und Kommunen in diesem Fall „nicht im Regen stehen lassen“. Auch Burkhardt von Pro Asyl rechnet damit, dass viele der Geflüchteten bei uns blieben, „etwa, weil ihre Existenz in ihrer Heimat vom Krieg zerstört wurde oder weil die Ukraine in Zukunft politisch ein Land sein wird, in dem sie dann nicht mehr leben können“.

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