Berlin. Reem Alabali-Radovan ist Integrationsbeauftragte. Hier sagt die SPD-Politikerin, wie sich der Ukraine-Krieg auf Deutschland auswirkt.

Was können, was sollen die Bürger in Deutschland für die Ukrainerinnen und Ukrainer tun, die vor dem Krieg flüchten? Die Staatsministerin beim Bundeskanzler für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan (SPD), gibt Antworten.

Ihre Familie ist vor dem irakischen Diktator Saddam Hussein zuerst nach Moskau und dann nach Deutschland geflohen. Sie waren damals sechs Jahre alt. Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Ankunft in der neuen Heimat?

Reem Alabali-Radovan: Die Erinnerung ist nur noch in Bruchteilen da. Wir waren einige Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Ich war damit beschäftigt, Deutsch zu lernen und Freunde zu finden. Mir war damals nicht klar, was passiert. Als ich zwölf war, habe ich mich dann mit dem Irak-Krieg beschäftigt. Da habe ich erst verstanden, warum meine Eltern geflüchtet sind.

Reem Alabali-Radovan ist  Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.
Reem Alabali-Radovan ist Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. © Funke Foto Service | Maurizio Gambarini

Nun fliehen Hunderttausende vor Putins Krieg. Wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer kann Deutschland aufnehmen?

Alabali-Radovan: Stand Freitag sind 109.000 Menschen aus der Ukraine hier in Deutschland angekommen. Und mit steigender Brutalität des Angriffskrieges werden mehr kommen. Eine genaue Zahl kann niemand vorhersagen. Klar ist: Deutschland wird allen Menschen Schutz bieten, die aus der Ukraine zu uns fliehen.

Registrieren Sie, wer zu uns kommt?

Alabali-Radovan: Die Bundespolizei aktualisiert täglich das Lagebild an den Grenzen. Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit können erst einmal frei in Deutschland aufhalten und brauchen kein Visum. Spätestens nach 90 Tagen müssen sie sich dann registrieren. Sie sollten sich bei den Ausländerbehörden vor Ort melden, damit sie einen Aufenthaltstitel erhalten und damit auch eine Beschäftigungserlaubnis, Sozialleistungen, Krankenschutz und Zugang zu den Integrationssystemen.

2015, als sehr viele Syrer kamen, hat das nicht funktioniert. Der Staat hat die Kontrolle verloren.

Alabali-Radovan: Das sehe ich nicht so. Aber wir haben aus den Fehlern gelernt. Der Unterschied ist: Jetzt herrscht Krieg in einem EU-Nachbarland. Die EU hat eine historische Entscheidung getroffen, die eine schnelle und unbürokratische Aufnahme aller Kriegsflüchtlinge ermöglicht - in Deutschland nach Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz.

Ukrainische Flüchtlinge überqueren am Hauptbahnhof von Lwiw (Lemberg) die Gleise, um einen Zug nach Polen zu besteigen.
Ukrainische Flüchtlinge überqueren am Hauptbahnhof von Lwiw (Lemberg) die Gleise, um einen Zug nach Polen zu besteigen. © dpa | Matthew Hatcher

Wie werden die Geflüchteten verteilt?

Alabali-Radovan: Menschen, die visafrei einreisen, können sich frei bewegen. Viele kommen derzeit bei Freunden oder Verwandten unter. Bei Menschen, die keine Bleibe haben, kann die Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel erfolgen – einem Quotensystem, das zwischen den Bundesländern vereinbart worden ist. Bund und Länder sind in engem Austausch über Verteilung, Aufnahmebereitschaft und Kapazitäten.

Ist der Staat auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung angewiesen, um alle Kriegsopfer unterzubringen?

Alabali-Radovan: Viele Menschen haben sich sofort bereiterklärt, Menschen aus der Ukraine privat aufzunehmen. Ich finde diese Solidarität großartig, das ist eine Sternstunde unseres Landes. Ich habe mir in Schwerin ein Bild davon gemacht. Bund, Länder und Kommunen arbeiten Hand in Hand, stellen Hilfe und Notunterkünfte bereit. Überlegen Sie, Menschen aus der Ukraine bei sich zu Hause aufzunehmen?Ich pendele mehrmals in der Woche zwischen Berlin und Schwerin - und habe jeweils nur kleinen Wohnraum. Aber ich unterstütze auf allen anderen Ebenen, beruflich und privat.

Kann es dazu kommen, dass Flüchtlinge von den Behörden auf Privathaushalte verteilt werden?

Alabali-Radovan: Nein. Bund, Länder und Kommunen stehen in der Verantwortung, die Aufnahme der Flüchtlinge zu gewährleisten. Es werden täglich neue Notunterkünfte errichtet, das funktioniert. Auch in Partnerschaft mit Technischem Hilfswerk, Bundeswehr und den Wohlfahrtsverbänden. Alle machen mit.

Wie können die Bürger helfen?

Alabali-Radovan: Sie tun es bereits in überwältigendem Maße überall vor Ort. Zusätzlich kann die Begleitung in einer Art Patenschaft sinnvoll sein. Die Menschen, die hier ankommen, haben 1000 Fragen – von Kita bis Arbeit. Wer helfen möchte, kann sich auch an die ukrainischen Communitys und Migrantenorganisationen wenden. Die sind nah dran und wissen, was die Geflüchteten brauchen.

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Woher kommen die Lehrerinnen und Erzieher, die zusätzlich an Schulen und Kitas benötigt werden?

Alabali-Radovan: Das ist tatsächlich eine große Aufgabe. Dazu tausche ich mich mit der Bundesbildungsministerin aus, auch die Kultusministerkonferenz berät darüber. Die Menschen, die zu uns kommen, bringen Berufe und Qualifikationen mit. Ein Weg wäre, dass Menschen aus der Ukraine bei uns als Erzieherinnen und Erzieher oder auch Lehrkräfte einsteigen, wenn die Qualifikation passt.

 Elena bindet ihrem Sohn Danilo kurz nach dem Grenzübergang in eine Decke um. Beide sind aus Dnjepr geflohen.
Elena bindet ihrem Sohn Danilo kurz nach dem Grenzübergang in eine Decke um. Beide sind aus Dnjepr geflohen. © dpa | Sebastian Gollnow

Haben die Geflüchteten eine gute Jobperspektive?

Alabali-Radovan: Ja, denn wir haben auch aus der Situation 2015/16 gelernt und geben den Geflüchteten eine Arbeitserlaubnis direkt bei Erteilung ihrer Aufenthaltstitels. Es gibt einige Branchen wie Pflege oder Gastronomie, in denen Arbeitskräfte händeringend gesucht werden. Eine große Herausforderung ist, dass viele auf der Flucht natürlich nicht an ihre Berufs- und Studienabschlüsse in Papierform gedacht haben. Wir wollen nicht, dass sie dann als Ungelernte gelten und im Niedriglohnsektor landen. Daher müssen wir hier einen Weg zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse ebnen.

Was erwarten Sie von den Arbeitgebern?

Alabali-Radovan: Viele Unternehmen helfen in diesen Tagen herausragend. Die Arbeitgeber können flexibel sein und damit umgehen, wenn ein perfekter Lebenslauf fehlt oder nicht alle Papiere da sind. Wir müssen die Willkommenskultur auch auf dem Arbeitsmarkt stärken.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Reem Alabali-Radovan :
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Reem Alabali-Radovan : © dpa | Paul Zinken

Welche Sozialleistungen sollen Flüchtlinge bekommen, die keine Arbeit finden?

Alabali-Radovan: Die Geflüchteten erhalten Leistungen von den Sozialämtern über das Asylbewerberleistungsgesetz.

Das ist weniger als Hartz IV. Sind Sie dafür, ukrainische Arbeitssuchende mit deutschen gleichzustellen?

Alabali-Radovan: Jetzt haben Unterbringung und Versorgung Priorität. Dann stehen auch Angebote der Agentur für Arbeit offen. Aber wir sollten auch darüber nachdenken, Menschen aus der Ukraine mittelfristig Zugang zur Grundsicherung zu gewähren.

Was erleben Russen in Deutschland, seit der Krieg begonnen hat?

Alabali-Radovan: Leider hören wir davon, dass Russinnen und Russen hier in Deutschland diskriminiert werden. Teilweise trauen sich Menschen nicht mehr, Russisch auf der Straße zu sprechen. Das besorgt mich sehr. Es gab auch Angriffe auf russische Lebensmittelmärkte, Kinder werden in der Schule beleidigt. Das dürfen wir nicht dulden. Wir machen als Bundesregierung sehr deutlich: Das ist Putins Krieg, nicht der Krieg der Russinnen und Russen. Und wir dürfen uns als Gesellschaft nicht spalten lassen. Wir müssen solidarisch zusammenstehen.

Frau Alabali-Radovan, Sie haben mit 31 Jahren ein Direktmandat im Bundestag gewonnen und sind als Staatsministerin ins Kanzleramt eingezogen. Was kommt als nächstes?

Alabali-Radovan: (lacht) Ich habe große Aufgaben vor mir und bin mir der Verantwortung sehr bewusst. Ich will, dass wir ein gemeinsames Selbstverständnis entwickeln als modernes, diverses Einwanderungsland.

Was verstehen Sie darunter?

Alabali-Radovan: Ich möchte, dass alle die gleichen Chancen haben, ihren Weg zu gehen, egal woher sie kommen. 27 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine familiäre Einwanderungsgeschichte. Ich möchte, dass sich das überall widerspiegelt – im Politikbetrieb, im öffentlichen Dienst, den Sicherheitsbehörden, der Wirtschaft, den Medien. Da müssen wir auf jeden Fall besser werden.

Geht es Ihnen vor allem um Herkunft?

Alabali-Radovan: Ich denke an alle Diversitätsmerkmale: Geschlecht, Herkunft, Religion, sexuelle Identität und Lebensform, Menschen mit Behinderung, Jung und Alt – es geht um Teilhabe.

Was verbinden Sie mit dem Begriff der Leitkultur?

Alabali-Radovan: Der Begriff ist inhaltsleer. Ich setze auf das Grundgesetz und seine Werte.

Polen, Medyka: Natascha und ihre Mutter kommen am Grenzübergang aus der Ukraine an.
Polen, Medyka: Natascha und ihre Mutter kommen am Grenzübergang aus der Ukraine an. © dpa | Sebastian Gollnow

Sie sind mit dem Profiboxer Denis Radovan verheiratet, boxen in Ihrer Freizeit selbst bei Traktor Schwerin. Was gibt Ihnen dieser Sport?

Alabali-Radovan: Ich mache das nur hobbymäßig und steige nicht selbst in den Ring. Boxen ist ein sehr ausgleichender Sport. In Boxhallen ist es egal, wo man herkommt oder wie viel Geld man hat. Alle begegnen sich auf Augenhöhe, mit viel Respekt und Akzeptanz der Regeln, die für alle gleich gelten. Das gefällt mir am allermeisten.

Sind Sie den Klitschkos mal begegnet?

Alabali-Radovan: Leider nicht. Vitali und Wladimir Klitschko sind für mich so etwas wie Jugendidole und natürlich folge ich aktuell ihren Social-Media-Kanälen. Ich habe den allergrößten Respekt davor, was die beiden gerade in Kiew machen und was sie für ihr Volk in diesem Krieg verkörpern.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen