Berlin. Industriepräsident Siegfried Russwurm spricht im Interview über die Stromkosten – und auf welche Energie Deutschland setzen sollte.

Funktioniert die Energiewende, wie sich der neue Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das vorstellt? Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), äußert im Interview erhebliche Zweifel. Und blickt sorgenvoll nach Osten.

In Europa droht Krieg - der Kreml hat mehr als 100 000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Welche Folgen hätte ein russischer Einmarsch für die Industrie in Deutschland?

Siegfried Russwurm: Die Folgen einer Verschärfung des Konflikts wären für alle düster. Insofern ist es richtig, über jeden geeigneten Kanal miteinander zu sprechen, um eine Eskalation abzuwenden.

Welche Sanktionen fürchten Sie?

Russwurm: Sanktionen sind eine politische Entscheidung. Darüber hat die Wirtschaft nicht zu spekulieren, es gilt das Primat der Politik. Aber auch Sanktionen haben ihren Preis.

Könnte die Wirtschaft auf russisches Gas aus der Ostseepipeline Nord Stream 2 verzichten?

Russwurm: Deutschland braucht eine sichere Energieversorgung. Die hängt aber nicht an einer einzelnen Pipeline, auch nicht an Nord Stream 2. Heute kommen über 50 Prozent unseres Gases aus Russland. Es wäre sicherlich nicht leicht, diesen Anteil kurzfristig komplett oder zu großen Teilen zu ersetzen.

Flüssiggas aus den USA?

Russwurm: Das wäre ein Teil der Maßnahmen. Aber wie sagen unsere amerikanischen Freunde? There is no free lunch − nichts ist umsonst. Ein Gastransport in Schiffen ist typischerweise teurer als über Pipelines.

Hat sich Deutschland zu sehr von Energielieferungen aus Russland abhängig gemacht?

Russwurm: Russland hat bislang immer geliefert, auch in diesem Winter. Gas größtenteils von dort zu beziehen war kein Vabanquespiel, sondern zuverlässig und günstig. Jetzt stellt sich die Frage nach stärkerer Diversifizierung. Es ist nie eine gute Idee, alle Eier in einen Korb zu legen.

Industriepräsident Siegfried Russwurm steht vor der Herausforderung, die Branche in eine CO2-freie Zukunft zu führen.
Industriepräsident Siegfried Russwurm steht vor der Herausforderung, die Branche in eine CO2-freie Zukunft zu führen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die EU-Kommission will Gas und Atomstrom als nachhaltig einstufen. Sehen Sie darin eine Chance?

Russwurm: Die Europäer gehen unterschiedliche Wege bei der Energieversorgung hin zu Klimaneutralität. Der Vorschlag der EU-Kommission zur Taxonomie ist ein Kompromiss. Deutschland hat entschieden, aus der Kernenergie auszusteigen. Die letzten drei Meiler gehen am Ende des Kalenderjahres vom Netz. Das ist unumkehrbar. Unsere Brückentechnologie in das Zeitalter der Erneuerbaren ist das Gas. Die neuen Gaskraftwerke sollten wasserstofffähig sein − und damit langfristig CO2-frei. Das würde unseren Unternehmen durchaus eine Chance bieten, wenn die Taxonomiekriterien realistischer gefasst würden. Wir müssen nur ehrlich bleiben in der Diskussion …

… worauf wollen Sie hinaus?

Russwurm: Deutschland ist aus der Kernkraft ausgestiegen, die Regierung hat vor, nun schon bis 2030 aus der Kohle auszusteigen – da ist es absolut notwendig, stärker auf Gas zu setzen. Es hilft uns nicht, alle zu jeder Zeit verfügbaren Energiequellen auszuschließen. Die Energieversorgung muss sichergestellt sein, zu jeder Millisekunde. Das ist eine mächtige politische Aufgabe.

Trauen Sie den Erneuerbaren nicht zu, die ganze Last zu tragen?

Russwurm: Heute und auf die absehbare Zukunft nicht. Für Klimaneutralität müssen wir das Land stärker elektrifizieren: die Mobilität, das Heizen, die Industrieproduktion. Den steigenden Strombedarf müssen wir decken − auch wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Dafür braucht es Gas als Brückentechnologie, und zwar schnell. Heute ist unsere Brücke zum guten Teil Kohle − mit all ihren Nachteilen für das Klima. Nur wenn wir bis dahin eine andere verlässlich belastbaren Versorgung haben, kommen wir bis 2030 aus der Kohle raus.

Geht Ihnen der Kohleausstieg zu schnell?

Russwurm: 2030 ist in acht Jahren! Die Politik kann sich nicht leisten, noch lange darüber zu diskutieren, wie ein so rascher Kohleausstieg funktioniert. Der Bau eines neuen Gaskraftwerks dauert fünf Jahre − den Genehmigungsprozess noch gar nicht eingerechnet. Die allererste politische Priorität muss sein, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Wenn wir uns in Bürokratie verheddern, wird die Energiewende scheitern. Die neue Regierung bezeichnet sich selbst als Fortschrittskoalition. Der würde ich zurufen: Schreitet fort und macht mal! Los jetzt!

Der Wirtschaftsminister macht Tempo beim Ausbau von Wind- und Sonnenenergie - und beim Umbau der Wirtschaft. Unterstützen Sie das Sofortprogramm von Robert Habeck?

Russwurm: Die Maßnahmen, die der Wirtschaftsminister vorgestellt hat, sind richtig, aber sie reichen nicht. Unser Land braucht massiv mehr Erneuerbare. Ich unterstütze den Minister darin, Beschränkungen wie Abstandsregeln für Windräder anzugehen.

Aber er bleibt noch zu wenig konkret in der Frage, wie wir die Energieversorgung sicherstellen, wenn die Erneuerbaren gerade nicht einspeisen. Die Investitionen sind auf beiden Seiten groß: in die Erneuerbaren wie in Gaskraftwerke für die Dunkelflaute. Deutschland muss bis 2030 pro Jahr rund 100 Milliarden Euro, insgesamt 860 Milliarden Euro, in den Klimaschutz stecken. Diese enormen Summen kann der Staat nicht allein bestreiten.

Das gelingt nur mit privaten Investitionen – und die müssen sich lohnen. Hier ist uns Herr Habeck noch Antworten schuldig, auch nach dem überraschenden Förderstopp für die Gebäudesanierung. Da dürfen wir bis 2030 keinen Tag mehr verlieren.

Habeck geht es um die Erneuerbaren, nicht um Gas.

Russwurm: Wenn man irgendwo hinlenken will, muss man aber sicher sein, dass da auch eine Straße hinführt. Die Industrie zu Erneuerbaren hinzulenken, wenn diese noch nicht durchgehend verlässlich verfügbar sind, ist wenig sinnvoll.

Welche Erwartungen hat die Industrie an den Strompreis?

Russwurm: Der Strompreis muss global wettbewerbsfähig werden. Heute zahlen die privaten Haushalte und die Industrie in Deutschland weltweit mit die höchsten Strompreise. Wenn wir die Menschen motivieren wollen, auf Elektrifizierung umzusteigen, darf der Strompreis nicht künstlich teuer sein.

Dann müsste Ihnen gefallen, dass die Ampelkoalition die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen will.

Russwurm: So vernünftig es ist, die EEG-Umlage in den kommenden Monaten abzuschaffen, wie die Ampel das plant: Damit allein werden die Unternehmen noch nicht nahe an einen global wettbewerbsfähigen Strompreis kommen. Akuter Handlungsbedarf besteht in der Belastung durch Netzentgelte und die Stromsteuer. Daher müssen diese deutlich abgesenkt werden. Wegen des steigenden CO2-Preises hätte der Staat keine Einbußen.

Welchen Strompreis halten Sie denn für wettbewerbsfähig?

Russwurm: Der Bundeskanzler hat auf dem Tag der Industrie vergangenen Juni einen Strompreis von vier Cent pro Kilowattstunde als sinnvoll bezeichnet. Da kann ich ihm nur zustimmen.

Haben Sie die Sorge, dass der Klimaschutz die Inflationsrate - im vergangenen Jahr lag sie im Schnitt bei 3,1 Prozent - weiter in die Höhe treibt?

Russwurm: Dass fossile Energieträger teurer werden, ist ja politisch gewollt. Und solange die Nutzer keine tragfähige Alternative haben, folgen daraus zwangsläufig höhere Preise. Für diejenigen, die heute eine Ölheizung haben, muss es eine realistische Möglichkeit geben, auf eine klimafreundlichere Heizung umzusteigen, um der Kostenfalle zu entkommen.

Wie wird sich die Inflationsrate entwickeln?

Russwurm: Die 3,3 Prozent, von denen die Regierung ausgeht, wären schon viel. Das wird manchen Privathaushalt und manches Unternehmen in Schwierigkeiten bringen.

Fordern Sie weitere Entlastungen?

Russwurm: Für Unternehmen sind die Ertragsteuern immer ein Thema − sowohl beim Steuertarif wie bei Abschreibungen. Für die privaten Haushalten wird man sich zum Beispiel darüber unterhalten müssen, wie die Progression bei der Einkommensteuer mit der Inflation zusammenpasst. Möglichkeiten zur Entlastung gibt es genug.

Die Corona-Pandemie belastet die Wirtschaft immer noch stark. Sind Sie überzeugt von der Eindämmungsstrategie der Regierung?

Russwurm: Ich wünsche mir mehr Systematik. Deutschland kommt einfach nicht vor die Welle. Nach zwei Jahren Corona ist es völlig inakzeptabel, dass es nicht genug aktuelle Daten, PCR-Testkapazitäten und einheitliche Hygienekonzepte für Schulklassen gibt. Die Behörden stochern viel zu oft im Nebel. Und mich verwundert manche Entscheidungsfindung. Wir erleben Corona-Gipfel von Bund und Ländern mit großer Einigkeit − und ein paar Stunden später landesspezifische Varianten der Entscheidung. Das führt zu Vertrauensverlust und zu einem Flickenteppich, den keiner mehr versteht.

Findet eine allgemeine Impfpflicht Ihre Sympathie?

Russwurm: Man muss die Impfpflicht nicht mögen, ich mag sie auch nicht. Aber ich sehe keine bessere Alternative, wenn wir Deutschland aus dieser Dauerkrise herausbringen wollen.

Soll die Impfpflicht dann für alle gelten?

Russwurm: Ich will mich in die Debatte der Abgeordneten nicht einmischen. Ich erwarte eine zügige, nachvollziehbare Entscheidung, die Wege für eine höhere Impfquote aufzeigt.

Was tragen die Betriebe dazu bei? Lassen Sie nur noch Geimpfte an den Arbeitsplatz?

Russwurm: Ich lehne es ab, dass Unternehmen Aufgaben übernehmen, die staatliche Hoheit betreffen. Die Impfpflicht zu kontrollieren und mit etwaigen Verstößen umzugehen gehört dazu. Dafür kann man die Unternehmen nicht einspannen.

Wann wird es Zeit, in den Betrieben zur Normalität zurückzukehren − und auch die Homeoffice-Pflicht aufzuheben?

Russwurm: Die Betriebe gehen verantwortungsbewusst mit den Risiken für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um. Wir halten den Laden am Laufen, auch mit möglichst wenig Präsenz durch Homeoffice, wo immer das machbar ist. Da muss der Staat keine Homeoffice-Pflicht verhängen. Natürlich können nicht alle Jobs von zu Hause aus erledigt werden. Homeoffice hat auch echte Nachteile, wenn es um Kreativität und Innovation geht. Die besten Ideen entstehen, wenn Menschen zusammenkommen.

Wie lange wird die Wirtschaft noch auf staatliche Hilfe angewiesen sein?

Russwurm: In den Wirtschaftszweigen ist die Lage sehr unterschiedlich. Messegesellschaften oder Kulturveranstalter werden länger auf Hilfen angewiesen sein als andere. Wir alle wissen nicht, was die kommenden Monate bringen.