Berlin. FDP und Grüne wollen zunächst zu zweit in kleiner Runde über ein mögliches Regierungsbündnis reden – SPD und Union bleiben außen vor.

Kurz nach 18 Uhr am Wahlabend telefoniert FDP-Chef Christian Lindner mit drei möglichen Regierungspartnern: Mit CDU-Chef Armin Laschet, mit SPD-Wahlsieger Olaf Scholz und Grünen-Chef Robert Habeck. Wenige Stunden später passiert etwas, das neu ist in der Geschichte der Bundesrepublik: Die beiden kleinen Parteien wollen Gespräche zur Regierungsbildung starten.

FDP und Grüne werden erst miteinander reden, bevor sie mit der möglichen Kanzlerpartei verhandeln. „Mit dem Wahlabend bricht tatsächlich eine neue Zeitrechnung in Deutschland an“, sagt Habeck. Der 52-Jährige dürfte die neue Nummer eins der Grünen werden, viel spricht dafür, dass die Partei ihn als Vizekanzler in der nächsten Regierung sieht.

Robert Habeck und Christian Lindner, hier vor drei Jahren  bei „Anne Will“, könnten bald schon zusammen am Kabinettstisch sitzen.
Robert Habeck und Christian Lindner, hier vor drei Jahren bei „Anne Will“, könnten bald schon zusammen am Kabinettstisch sitzen. © NDR/Wolfgang Borrs | NDR/Wolfgang Borrs

Sie nennen es nicht Sondierung, sondern Vor-Sondierung: Ein kleines Format soll es sein, von liberaler Seite kommen nur Lindner und sein Generalsekretär Volker Wissing. Grünen Fraktionsvize Anton Hofreiter bestätigt, dass beide Parteien nun erstmal im „sehr kleinen Kreis“ sprechen würden. Beide müssten schauen, was es an Gemeinsamkeiten gebe und was für jede Seite notwendig sei.

Das Gemeinsame könnte der gesellschaftliche Aufbruch, eine Politik gegen den Status Quo sein. Grüne und FDP könnten das „fortschrittliche Zentrum“ eines Dreierbündnisses mit SPD oder Union sein, hofft Lindner. Erst nach diesen Gesprächen wollen die Liberalen Einladungen der Großen überhaupt annehmen. Lesen Sie hier: So laufen Koaltionsverhandlungen ab

Die Strategie der FDP

Christian Lindner hat eine klare Präferenz: Sein Ziel heißt Jamaika. Ein Ampelbündnis schließt der FDP-Chef zwar nicht aus, doch hinter seinem Vorstoß für Gespräche mit den Grünen, um das Fundament eines Dreierbündnisses zu legen, steht ganz klar der Wunsch nach einer Koalition mit der Union.

Das Modell ist die gut funktionierende Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein, das Modell ist weniger die (ebenfalls gut funktionierende) Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz.

Der Norden als Vorbild: Auch deshalb ist in den liberalen Planspielen Grünen-Parteichef Robert Habeck der zentrale Adressat aufseiten der Grünen, nicht Co-Chefin Annalena Baerbock. Dabei spielen nicht nur politische, sondern auch persönliche Gründe eine Rolle. „Wir kommen mit Habeck besser klar“, hört man am Wahlabend aus der FDP-Spitze.

Keine Frage, es gibt belastbare Bande: Habeck und FDP-Vize Wolfgang Kubicki haben die Kieler Jamaika-Koalition ausgehandelt und er ist derjenige, der am Wahlabend ausdrücklich die Tür zu Jamaika offenhält: Habeck erinnert in der ARD an die Regierungsbildung in Schleswig-Holstein, wo die Grünen „erstmal mit der FDP geredet“ und geschaut hätten, ob gemeinsame Projekte möglich seien. „Jamaika war möglich, Ampel war möglich“. Es wurde Jamaika.

Die gelb-grünen Bündnisgespräche sollen jedoch nicht nur den Macht- und Gestaltungsanspruch der beiden kleineren Koalitionspartner zeigen. Sie sollen auch ganz praktisch den Weg in ein Bündnis ebnen: Konflikte auflisten, Kompromisse ausloten. Das wird nicht leicht. „Wer Schwarz-Grün machen wollte, für den ist auch Jamaika machbar“, glauben sie bei der FDP.

Lindner will den Grünen den Gang nach Jamaika leicht machen

Doch scheitern könnte es allein schon an der Frage, wer das Finanzministerium beanspruchen kann. Denn das wollen Habeck und Lindner gleichermaßen. Für die Grünen allerdings könnte möglicherweise die Aussicht attraktiv sein, mit den Stimmen einer Jamaika-Mehrheit die nächste Bundespräsidentin stellen zu können.

Für Lindner sind die Zweiergespräche vor allem aber auch ein Versuch, die Fehler von 2017 nicht zu wiederholen: Vom ersten Jamaika-Versuch ist das Gefühl geblieben, über den Tisch gezogen zu werden, sich in personell übersteuerten Verhandlungsrunden bis zur Erschöpfung verkämpft und zu wenige direkte Drähte zu den Grünen gepflegt zu haben.

Lindner will diesmal die Fäden in der Hand halten, seine Leute haben längst enge Kontakte geknüpft. Auf Parlamentsebene, auf Parteiebene. Die parlamentarischen Geschäftsführer Marco Buschmann (FDP) und Britta Haßelmann (Grüne) kommen gut miteinander aus, die Fraktionsvizes Stephan Thomae (FDP) und Konstantin von Notz (Grüne) schätzen sich.

Habeck und Kubicki, die beiden Nordlichter, finden ebenfalls den richtigen Ton füreinander. Lindner, das ist bereits am Wahlabend klar, will es diesmal managen und den Grünen den Gang nach Jamaika so leicht wie möglich machen.

Die Strategie der Grünen

Auch bei den Grünen sind die Erinnerungen an 2017 frisch – und nicht besonders gut. Die Indiskretionen, die Sticheleien, die viel zu großen Runden, all das soll es dieses Mal nicht mehr geben.

Die Grüne-Parteispitze schweigt sich deshalb am Montag aus über die mögliche Zusammensetzung eines Sondierungsteams: „Wir führen die Verhandlungen gemeinsam“, sagt Habeck dazu nur und meint sich und Baerbock.

Ähnlich wie die FDP haben auch die Grünen eine Präferenz, welche Dreierkonstellation es werden soll: Die SPD war der erklärte Wunsch-Koalitionspartner im Wahlkampf. Und auch wenn Habeck betont, dass ein Dreierbündnis aus SPD, Grünen und FDP anders funktionieren würde als eine rot-grüne Koalition, sind die Schnittmengen zur SPD größer als zur Union.

Unnötig einengen lassen will man sich von der programmatischen Nähe aber nicht, die Grünen betonen am Montag, das in den kommenden Tagen Gespräche mit allen Parteien geführt würden, die für eine Regierung in Frage kommen. Auch mit der Union – obwohl diese im Moment dabei sei, „sich aus der Regierungsfähigkeit zu verabschieden“, wie Habeck es formuliert.

Der grünen Verhandlungsposition gegenüber SPD und Union schadet es jedenfalls nicht, wenn Scholz und Laschet wissen, dass sie nicht die einzigen möglichen Partner sind.

Voraussetzung für all das ist eine gemeinsame Basis mit den Liberalen, und diese will man jetzt ausloten. „Es macht Sinn, dass die miteinander reden, die denkbar weit auseinander sind“, erklärt Habeck. Fast wortgleich war das auch von Christian Lindner zu hören.

FDP und Grüne haben viele Gemeinsamkeiten – und viele Differenzen

Inhaltlich gibt es durchaus Punkte, bei denen sich FDP und Grüne nahe sind. So stehen zum Beispiel beide für starke Bürgerrechte und eine liberale Gesellschaftspolitik, wollen den Verkauf von Cannabis legalisieren und einer Reform des Familien- und Abstammungsrechts. Auch in der Außenpolitik gibt es Gemeinsamkeiten.

Doch mindestens genauso lang ist die Liste der Differenzen. Denn Grüne und FDP haben ein grundlegend anderes Verständnis davon, wie der Staat und seine Bürgerinnen und Bürger zueinanderstehen - in der Finanz- und Steuerpolitik, beim Klimaschutz, in der Sozialpolitik.

Immerhin, ein paar Schnittmengen sind bereits ausgemacht: Sie und Lindner seien etwa gleich alt, witzelte Baerbock am Montag, Habeck und Lindner seien beide Männer, „und wahrscheinlich essen wir alle drei gerne Eis.“