Berlin. Die Grünen können sich über den Wahlausgang nicht wirklich freuen. Von der einst angepeilten Kanzlerschaft sind sie weit entfernt.

Vielleicht hätte der Jubel noch ein bisschen euphorischer gewirkt, wäre da der Vergleich nicht gewesen. Als um kurz nach 18 Uhr die erste Prognose zur Bundestagswahl auf der großen Leinwand erscheint, gibt es Applaus auf der Wahlparty der Grünen – erst beim Ergebnis der FDP, die hinter den Grünen liegt, und dann beim eigenen. Es wird geklatscht und gejohlt, einzelne liegen sich in den Armen.

Doch wie viel euphorischer der Moment hätte ausfallen können, wird klar, als wenig später die Zahlen für die Abgeordnetenhauswahl kommen. Dort sieht die erste Prognose die Grünen deutlich vorn, und die Freude der Berliner Grünen, die gemeinsam mit dem Bundesverband feiern, übertönt die erste Welle des Applaus mit Leichtigkeit.

Die Bundespartei der Grünen und der Berliner Landesverband feiern an diesem Abend gemeinsam in der Berliner Columbiahalle. Normalerweise, in vorpandemischen Zeiten, finden in der Halle Konzerte statt, bis zu 3500 Menschen tanzten hier. An diesem Abend stehen, pandemiebedingt, rund 400 Menschen unter den Sonnenblumen, die an die Decke projiziert werden. Und während die Landespartei jubelt, ist die Lage für die Bundesgrünen zwiespältiger.

Grüne: Applaus trotz vermeidbarer Talfahrt

Der grüne Balken auf dem Bildschirm ist sehr viel höher als er es vor vier Jahren noch war. Aber sehr viel niedriger, als er in diesem Jahr hätte sein können. Die Grünen, die 2017 als kleinste Fraktion in den Bundestag eingezogen waren, haben sich, so sieht es zumindest die erste Prognose voraus, vorgearbeitet auf Platz drei. Doch kann das zufriedenstellen als Ergebnis eines Wahlkampfs, der gestartet war mit dem Anspruch, Platz eins zu holen?

Grüne laut Prognosen bei Wahl in Berlin knapp vorn

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    Noch im Frühjahr sah es aus, als könnte diese Wahl die erste grüne Regierungschefin der Republik bringen. Jahrelang waren die Grünen in Umfragen zweitstärkste Kraft. Mit der Nominierung von Annalena Baerbock überflügelte die Partei zwischenzeitlich die Union, die 30-Prozent-Marke schimmerte am Horizont. „Die Frau für alle Fälle“, titelte der Spiegel im April.

    Die anschließende Talfahrt ist gut dokumentiert. Der Lebenslauf, die Nebeneinkünfte, das Buch mit den vielen kopierten Stellen – die Partei und die Kandidatin erwischte all das offenbar kalt. Nicht einmal die brutale Art, mit der die Flut im Ahrtal die Klimakrise und damit ein Kernthema der Grünen ins öffentliche Bewusstsein schon, änderte etwas am Abwärtstrend.

    Zwischen dem, was zwischenzeitlich möglich schien, und den ersten Zahlen liegen gut zehn Prozentpunkte. Als nach der Prognose die erste Hochrechnung kommt, ist der grüne Balken noch um ein paar Nachkommastellen geschrumpft. Der Applaus ist da nur noch schütter. Richtig laut wird das Publikum in der Columbiahalle erst wieder, als Baerbock und Robert Habeck die Bühne betreten.

    SPDCDU/CSUGrüneFDPAfDDie LinkeSonstige
    25,724,114,811,510,34,98,7

    299 von 299 Wahlkreisen sind ausgezählt. Die Daten stammen vom Bundeswahlleiter (Stand 4.30 Uhr) und sind in Prozent angegeben.

    Das alte Problem: Ein mageres Ergebnis nach hohen Umfragewerten

    Es ist Baerbock, die den grünen Phantomschmerz dieses Abends zusammenfasst: „Wir wollten mehr, das haben wir nicht erreicht“, sagt die Frau, die die erste grüne Kanzlerin werden wollte. Das habe man nicht erreicht, aufgrund eigener Fehler, aufgrund ihrer Fehler – auch das sagt Baerbock deutlich. Und doch: Das Ergebnis sei historisch gut – und die Partei habe eine Aufgabe. „diesmal hat es noch nicht gereicht“, sagt Baerbock, „aber wir haben einen Auftrag für die Zukunft.“

    Für viele, die schon lange dabei sind, muss sich der Abend ein wenig anfühlen wie ein Deja-Vu. Denn das Problem mit den hohen Umfragewerten, auf die der Einbruch folgt, das kennen sie bei den Grünen. Schon 2017 und 2013 lief es ähnlich.

    2013 folgte auf die Niederlage ein fast vollständiger Austausch des Spitzenpersonals. Jürgen Trittin, Claudia Roth und Renate Künast verließen freiwillig die erste Reihe. Doch damit, das macht die heutige Parteispitze an diesem Abend klar, ist dieses Mal nicht zu rechnen. Baerbock soll an diesem Abend den Saal nicht verlassen als die Kandidatin, die eine Chance verspielt hat.

    Habeck, dem die Frustration über den verstolperten Wahlkampf zwischendurch deutlich anzumerken war, findet warme Worte für seine Co-Parteichefin. Es sei eine „Speerspitzen-Aufgabe“ gewesen, die Baerbock da gehabt habe, sagt er. Und Baerbock habe gestanden – „eine Kämpferin, ein Löwenherz.“ Und wie sie da gemeinsam auf der Bühne stehen, sieht das Spitzenduo gelöster aus als man sie lange zusammen gesehen hat.

    Ampel oder Jamaika – ein Dreierbündnis für Deutschland

    Die Frage nach der Verantwortung, die will die Partei nicht stellen in der fragilen Phase direkt nach der Wahl. Stattdessen geht es jetzt darum, Teil der nächsten Regierungskoalition zu werden. Man werde das Wahlergebnis nehmen und festhalten, man werde zusammenstehen, sagt Habeck. „Und dann versuchen wir, eine so starke, innovative Klimaschutzregierung zu bilden, wie sie Deutschland noch nicht hatte.“ Das sei der Auftrag für die nächsten Wochen und Monate.

    Mögliche Koalitionen, in denen die Grünen mitregieren würden, gibt es. Sowohl ein sogenanntes Ampel-Bündnis mit SPD und FDP als auch eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP sind am Sonntagabend möglich.