Berlin. Vor dem letzten Flug der Bundeswehr fürchten zurückbleibende Ortskräfte die Rache der Taliban. Merkel verspricht humanitäre Hilfe.

Noch immer versuchen täglich Tausende verzweifelte Menschen, der Hölle von Kabul zu entfliehen. Doch bis zum 31. August wollen die Amerikaner ihre Militärmission in Afghanistan beenden. Der letzte Evakuierungsflug findet aber bereits Tage vorher statt. Am Hindukusch läuft ein tödlicher Countdown. Nicht alle afghanischen Ortskräfte, die der Bundeswehr und anderen deutschen Stellen jahrelang geholfen haben, schaffen es auf den letzten Flieger. Viele fürchten die Rache der radikalislamischen Taliban.

Wann enden die Rettungsflüge?

Mit dem sukzessiven Rückzug des US-Militärs bis zum 31. August steigt die Gefahr von Terroranschlägen am Flughafen in Kabul. Westliche Geheimdienste warnen vor allem vor Attacken des regionalen Ablegers der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Der letzte Evakuierungsflug findet daher schon Tage vor dem 31. August statt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am Mittwoch, die Rettungsflüge der Luftwaffe würden „in einigen Tagen“ enden. Nach Informationen der ARD und des „Spiegel“ soll die letzte Bundeswehrmaschine bereits am Donnerstag in Kabul abheben. Die Einsatzkräfte sollen demnach am Freitag nach Deutschland zurückkehren. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte, er könne einen Zeitpunkt „weder bestätigen noch dementieren“.

Wie viele Helfer fallen in die Hände der Taliban?

Vor der Machtübernahme der Taliban am 15. August gab es insgesamt rund 60.000 afghanische Ortskräfte, die für die internationale Gemeinschaft tätig waren. Experten rechnen damit, dass noch einmal 240.000 Familienmitglieder dazukommen. Allein zwischen Dienstag- und Mittwochmorgen haben US-Militärs rund 11.200 Menschen per Flugzeug außer Landes gebracht.

Kämpfer der Taliban patrouillieren auf einem Kleintransporter durch die Straßen von Kabul.
Kämpfer der Taliban patrouillieren auf einem Kleintransporter durch die Straßen von Kabul. © AFP | WAKIL KOHSAR

Die Zahl afghanischer Ortskräfte, die für die Bundeswehr, deutsche Ministerien, Entwicklungshilfe- und Nichtregierungsorganisationen gearbeitet haben, wird auf rund 10.000 taxiert. Nach vorsichtigen Schätzungen wurden davon 7000 bis 8000 Menschen bereits ausgeflogen.

Die Bundeswehr hat bis Mittwoch mehr als 4850 Bundesbürger, Afghanen und Bürger aus 45 weiteren Staaten evakuiert. Wer es allerdings nicht auf einen Flieger schafft, muss zunächst in Afghanistan bleiben. Oppositionelle, Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsaktivistinnen und Menschenrechtsaktivisten sowie Justizkräfte fürchten die Rache der Taliban.

Was sagt die Kanzlerin dazu?

„Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch. „Sie sind bitter. Für viele Menschen in Afghanistan sind sie eine einzige Tragödie.“ Die Kanzlerin räumte Fehleinschätzungen ein: „Unterschätzt aber haben wir, wie umfassend die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben würden.“

Seit 2013 habe man im regulären Verfahren über 1000 gefährdete Ortskräfte und ihre Angehörigen kontinuierlich nach Deutschland geholt, „wenn sie von den Taliban bedroht wurden“ – insgesamt 4800 Menschen. Nach der Abzugsentscheidung hätten 2500 Ortskräfte und ihre Angehörigen in einem beschleunigten Verfahren Visa erhalten.

Am Ende sei kein Visum mehr erforderlich gewesen. Man werde neben den bereits versprochenen 100 Millionen Euro Soforthilfe noch weitere 500 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan zur Verfügung stellen.

Können die Helfer der Deutschen anders gerettet werden?

Auch eine Evakuierung über die Landgrenze in Nachbarländer Afghanistans ist denkbar. „Die Bundesregierung hat seit Beginn der Evakuierung auf mehreren Ebenen nach Lösungen parallel zur Luftbrücke gesucht. Wir sind daher im Gespräch mit den Taliban in Doha wie auch mit Nachbarländern Afghanistans – etwa Pakistan –, um die Evakuierung auf ziviler Basis auch nach dem 31. August weiterzuführen“, sagte Niels Annen, Staatsminister im Außenministerium, unserer Redaktion. Das setzt zwei Dinge voraus: eine Vereinbarung mit den jeweiligen Regierungen und den Taliban.

Kommt es zu einem Deal mit den Taliban?

Markus Potzel, deutscher Ex-Botschafter in Afghanistan, führt derzeit Gespräche mit Taliban-Vertretern in der katarischen Hauptstadt Doha. Das Problem: Im Westen weiß man nicht, welche Strömung bei den Taliban am Ende die Oberhand haben wird. Die Vertreter in Doha gelten als eher gemäßigt. Die regionalen Kämpfer, die den Siegeszug durch die afghanischen Provinzen ermöglicht haben, sind eher ablehnend. Es soll schon zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern gekommen sein, sagt ein Diplomat.

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