Berlin. Beim digitalen Parteitag der SPD rechnet Olaf Scholz mit der Union und den Grünen ab und verkündet, was er als Kanzler zu bieten hätte.

Fast eine Stunde musste Olaf Scholz auf seinen Moment warten. Jeder Politiker, jeder Künstler weiß, wie schwer es ist, hinter der Bühne diesem Druck standzuhalten, dann zu performen, wenn das rote Licht der Live-Kamera angeht. Noch dazu in einer fast menschenleeren Halle. Der Druck, der auf Scholz beim SPD-Parteitag keine fünf Monate vor der Wahl lastete, war immens. Nicht viel weniger als die Rede seines Lebens erwartete die vom Umfragetief verunsicherte Partei von ihrem Kanzlerkandidaten.

Scholz zeigte immerhin, dass er trotz des Riesenrückstands auf Grüne und Union mit allem kämpft, was er hat. Das nun beschlossene Wahlprogramm trägt seine Handschrift. Er wolle eine Regierung anführen, die das Land nach Corona nach vorne bringe, digitaler und gerechter mache.

Der Koalitionspartner CDU/CSU könne es nicht: „Ich bin es leid, dass wir bloß dafür sorgen können, dass es nicht ganz so schlimm kommt. Ich bin es leid, dass wir immer wieder mit unserer Professionalität und Regierungserfahrung anderen das Handwerk erklären und die Kohlen aus dem Feuer holen müssen.“ Früher hätten CDU und CSU für Maß und Mitte gestanden: „Heute stehen sie für Maaßen und Maskenschmu.“

Kanzlerkandidat Olaf Scholz beim digitalen Parteitag der SPD.
Kanzlerkandidat Olaf Scholz beim digitalen Parteitag der SPD. © AFP | Axel Schmidt

Olaf Scholz attackiert Annalena Baerbock indirekt

Aber regiert die SPD nicht mit? Trug Scholz in den ersten Monaten der Pandemie nicht alles mit, begehrte er nicht erst beim Impfchaos gegen Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Merkel auf? Hier beließ es der Vizekanzler bei Mithaftungsfloskeln.

Deutschland müsse seinen „Fortschrittsstau“ auflösen – mit einem Sozialdemokraten im Kanzleramt. Er habe einen Plan, wolle die Republik auf den vier Zukunftsfeldern Mobilität, Klima, Digitales und Gesundheit modernisieren: „Ich kann meine Erfahrung, meine Kraft und meine Ideen einbringen. Als Regierungschef der Stadt Hamburg. Als Minister. Als Vizekanzler. Als überzeugter Europäer“, umwarb der 62-Jährige die 600 digital zugeschalteten Delegierten und das Wahlvolk.

Ohne die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (die noch kein Regierungsamt innehatte) namentlich zu erwähnen, hob Scholz hervor, gute Ideen alleine seien für den mächtigsten Job zu wenig: „Dazu braucht es die Erfahrung und die Fähigkeit, Ideen durchzusetzen. Einen Regierungsapparat zu steuern. Um aus Träumen Politik zu machen.“ Im Orchester der Regierung brauche man gute Instrumente und Musiker. „Ein guter Finanzminister oder eine gute Finanzministerin zum Beispiel schadet nie. Aber es kommt auf den Dirigenten an“, sagte Scholz selbstbewusst.

Als Finanzminister genießt er persönlich hohe Zustimmungswerte. Den Kanzlerjob trauen ihm laut ZDF-Politbarometer die Deutschen eher zu als Baerbock oder CDU-Chef Armin Laschet. Doch mit einer 14-Prozent-Partei im Rücken wird niemand Kanzler. Scholz versuchte, der SPD trotz fehlender Machtperspektive Mut zu machen.

Scholz bekommt 96 Prozent: Genugtuung nach der Parteichef-Niederlage

Beim Klimaschutz müsse sich die SPD nicht vor den Grünen verstecken: „Glaubt nicht denen, die meinen, sie könnten auf der grünen Wiese eine ganz neue Welt erfinden!“ Bis 2030 werde die Industrie pro Jahr so viel Strom zusätzlich brauchen, wie Hamburg in einem Jahr aus den Leitungen sauge. Dafür müssten massenhaft Windräder gebaut werden.

Auch SPD-Chef Norbert Walter-Borjans kritisierte den Koalitionspartner scharf: „Wer wie CDU und CSU in der Klimapolitik hin- und herspringt zwischen Vollbremsung einerseits und dann halsbrecherischen Überholmanövern auf der anderen Seite, der ist ein Fall für Flensburg, dem gehört der Führerschein entzogen.“

Scholz versprach Breitband auf Weltklasseniveau für jeden, ein Gesundheitssystem mit Bürgerversicherung, einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde oder den Bau von 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr. Werde er Bundeskanzler, sollten die Bürgerinnen und Bürger ihn daran messen, „wird unser Land im Jahrzehnt bis 2030 ein besseres Land geworden sein.“

Parteitag der SPD: Die Stimmung fehlte

Der erste rein digitale Parteitag in der fast 160-jährigen SPD-Geschichte verlief zäh. Ohne Applaus, ohne Emotionen kam mehr als fünf Stunden lang so gut wie keine Stimmung auf. Einzelne Genossen versuchten von der digitalen Seitenlinie, Scholz etwas Glamour zu verschaffen.

Ein bärtiger Jungsozialist postete im Netz ein Foto von sich, auf dem Scholz mit Arbeiterfaust unter dem Spruch „Punks not ­dead“ zu sehen ist. Das spielt auf einen Song einer britischen Band an, die Anfang der 1980er-Jahre mit einem „Starkstrom-Aufschrei“, so das Fachblatt „Rolling Stone“, gegen Auflösungserscheinungen des Punk ankämpfte.

Der junge Scholz war mal als langhaariger Jungsozialist Revoluzzer, später wurde er Rechtsanwalt, verteidigte Arbeitnehmer gegen Kündigungen. „Ich stehe auf der Seite der ganz normalen Leute“, sagte Scholz, der als Generalsekretär Schröders Hartz-IV-Reformen stets verteidigte. Vor zwei Jahr war den SPD-Mitgliedern dieses Bekenntnis zu wenig. Sie verweigerten ihm den Parteivorsitz.

Am Sonntag wird er mit 96 Prozent als Kanzlerkandidat bestätigt, nicht weit weg von den 100 Prozent für Martin Schulz 2017. Der Wuppertaler Abgeordnete Helge Lindh traut Scholz zu, in 140 Tagen Baerbock und Laschet zu bezwingen: „Olaf hat nicht nur das größere Hirn, sondern auch das größere Herz.“