London. Ein Sieger, der weniger Liebe erfährt als der Verlierer, eine verblüffende 15-Jährige und eine maue deutsche Bilanz: Das war Wimbledon 2019.

Die Größe eines Sportlers zeigt sich nicht allein in seinen Leistungen im Wettkampf, sondern vor allem im Umgang mit Sieg und Niederlage. Um zu wissen, dass Novak Djokovic auf dem Tennisplatz zu den Größten zählt, die dieses Spiel je gespielt haben, hätte es das epische Wimbledon-Finale 2019 nicht gebraucht. Umso beeindruckender war, wie der serbische Weltranglistenerste seinen 7:6 (7:5), 1:6, 7:6 (7:4), 4:6, 13:12 (7:3)-Sieg gegen den Schweizer Grand-Slam-Rekordsieger Roger Federer auch abseits des Center-Courts zu einem Triumphzug gestaltete.

Sprechchöre für den „Maestro“

4:57 Stunden hatten sich die beiden Heroen aneinander abgearbeitet, es war das längste Finale in der Geschichte der All England Championships gewesen. Es hätte sicherlich die Fünf-Stunden-Marke überschritten, wäre nicht erstmals an der Church Road die Regel zur Geltung gekommen, dass im finalen Satz bei 12:12 ein Tiebreak entscheiden muss. Djokovic hatte dabei nicht nur gegen den Weltranglistendritten ankämpfen müssen, der mit seinen 37 Jahren und 340 Tagen der älteste Major-Sieger der Geschichte werden konnte, sondern auch gegen das Publikum. Die ganz überwiegende Mehrheit der 14.979 Zuschauer hielt zu Federer, was spätestens im Entscheidungssatz nicht mehr zu überhören war. Fast jeder Punkt des Schweizers, der in seinem zwölften Wimbledon-Finale stand, wurde stehend gefeiert, in den Pausen gab es Sprechchöre für den „Maestro“.

Doch Djokovic stand seinen Mann gegen all die Widerstände, er bewies in allen drei Tiebreaks seine Willenskraft und vor allem, als er beim Stand von 7:8 im Entscheidungssatz zwei Matchbälle abwehrte und damit der erste Wimbledon-Sieger seit Beginn der Profiära 1968 ist, der nach Abwehr von Matchbällen siegte. Ganz besonders beeindruckte jedoch, dass er sein Temperament, das ihn schon so manches Mal in Verruf gebracht hatte in der Vergangenheit, in einer Art und Weise kontrollierte, die überraschte. Auch wenn er sich ein ums andere Mal hilfesuchend mit ausgebreiteten Armen in Richtung seines Trainerteams wandte, zügelte er seine Emotionen in einer Form, die bewundernswert war.

Respektiert, aber nicht geliebt

„Ich wusste, was auf mich zukommt. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich ruhig und konzentriert bleiben muss“, sagte er. Einige Phasen des Matches habe er am Morgen des Finalsonntags visualisiert, also vor dem inneren Auge durchgespielt. „Und wenn die Leute ‚Come on, Roger‘ gerufen haben, habe ich mir einfach gesagt, dass sie ‚Come on, Novak‘ rufen, und das hat mich dann zusätzlich gepusht“, sagte er. Mentale Stabilität ist das, die nur echte Champions mitbringen.

Tatsächlich wird der 32-Jährige, und das ist beileibe nicht nur in London so, sondern überall auf der Welt, für seine Leistungen zwar respektiert, aber nicht geliebt. Das liegt zum einen an seiner bisweilen arroganten Art, an der Neigung, unterlegene Spieler vorzuführen oder auch daran, manchmal zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Es ist zum anderen aber sein Schicksal, mit Federer und dem Spanier Rafael Nadal (33/Nr. 2 der Welt) zwei Weltklasse-Kontrahenten vor sich zu haben, die durch ihre menschlichen und sportlichen Qualitäten so sehr glänzen, dass für den Dritten im Bunde viel weniger Scheinwerferlicht bleibt, als ihm zugestanden werden müsste. Diese Rolle zu akzeptieren, das ist schwer, und Djokovic schafft das nicht immer so gut wie am Sonntag.

Djokovic fehlen noch zwei Siege bis Nadal

Umso mehr wuchs er in der Stunde des „mental härtesten Matches meiner gesamten Karriere“, weil er auf aus-schweifende Jubelgesten oder lautsprecherische Worte verzichtete und statt-dessen seinen Dauerrivalen als Vorbild für das eigene Fortkommen pries. „Roger ist eine Inspiration für mich und für uns alle. Ich weiß nicht, ob ich mit 37 noch zu dem fähig sein werde, was er leistet“, sagte er.

Möglicherweise muss der zweifache Vater aber auch gar nicht mehr fünf Jahre spielen, um zumindest in der Rekordliste der Grand-Slam-Geschichte die Spitzenposition zu übernehmen. Nach seinem fünften Wimbledon-Titel fehlen ihm noch zwei Major-Siege, um zu Nadal (18 Titel) aufzuschließen, und dann wären es nur noch zwei weitere, um auch Federer (20) einzuholen.

Der achtmalige Wimbledon-Champion versuchte zwar, demonstrative Gelassenheit auszustrahlen, indem er sagte, er habe „nie wegen der Rekorde Tennis gespielt, sondern aus Liebe zum Spiel“. Die Enttäuschung darüber, seinen 21. Grand-Slam-Titel aus den Händen gleiten gelassen zu haben, konnte er jedoch nicht überspielen. In jedem Fall, sagte der Schweizer, der erst zum Masters in Cincinnati (Start 11. August) auf die Tour zurückkehren will, werde er weiter um die großen Titel kämpfen. „Es ist noch nicht vorbei, auch wenn die Chancen weniger werden.“

Wie aussichtslos das Unterfangen ist, Federer den Platz als größtem Tennisspieler aller Zeiten streitig zu machen, und das unabhängig von der Zahl gebrochener Rekorde, scheint Novak Djokovic eingesehen zu haben. Aber die Hoffnung, von dem Tag an, an dem seine beiden größten Widersacher in Ruhestand gehen, nicht nur den Respekt, sondern auch die Liebe des Publikums zu spüren, lebt ihn ihm. „Vielleicht werde ich, wenn ich 37 bin, ja auch die Sprechchöre bekommen, die heute Roger bekommen hat“, sagte er. Ohne Frage: Verdient hätte er es sich.

Cori Gauff - das Wunderkind aus den USA

Was aber bleibt sonst noch von Wimbledon 2019? Einerseits, dass Alter wirklich nicht mehr ist als eine Zahl, was man daraus ablesen konnte, dass auch bei den Damen mit Serena Williams eine 37-Jährige im Finale stand. Dass die US-Ikone innerhalb von nur 56 Minuten mit 2:6, 2:6 gegen Simona Halep unterging, sollte dem Damentennis Mut machen. Schließlich ist die Rumänin erst 27 Jahre alt und hat noch viel Zeit, ihrem zweiten Grand-Slam-Titel einige weitere anzufügen. Und diejenige, die vielleicht einmal Serenas 23 Major-Triumphe angreifen könnte, hat sich auch schon vorgestellt in London.

Cori Gauff, das erst 15 Jahre alte Wunderkind aus den USA, scheiterte zwar im Achtelfinale an der späteren Turnier-siegerin, hinterließ jedoch den Eindruck, dass die „Next Generation“ im Damentennis deutlich aggressiver auf Titeljagd gehen wird als ihre Konterparts bei den Herren. Dort wird zwar seit Jahren darüber diskutiert, wer die Grand-Slam-Herrschaft der großen Drei – die seit Stan Wawrinkas US-Open-Sieg 2016 alle elf vergebenen Major-Titel unter sich aufgeteilt haben – beenden wird. Doch schon im Viertelfinale gab es keinen Spieler mehr, der nach 1995 geboren wurde.

Deutschland fehlt die Breite

Aus deutscher Sicht blieb die Erkenntnis, dass es an qualitativer Breite fehlt. Mit Julia Görges (30/Bad Oldesloe) und Jan-Lennard Struff (29/Warstein), die als letzte deutsche Starter in Runde drei scheiterten, gibt es immerhin eine zweite Reihe, die einspringen kann, wenn die Topspieler Angelique Kerber (31/Kiel) – peinliches Zweitrundenaus als Titelverteidigerin gegen die unbesungene US-Amerikanerin Lauren Davis – und Alexander Zverev (22/Hamburg) – überraschendes Erstrundenaus gegen den Tschechen Jiri Vesely nach Querelen mit seinem Management – früh ausscheiden. Aber hoffnungsvolle Talente, die Druck auf die Etablierten machen und die zweite Woche eines Grand-Slam-Turniers erreichen könnten, gibt es keine. Der Deutsche Tennis-Bund (DTB) immerhin ist alarmiert und will die Nachwuchsarbeit weiter forcieren.