Leipzig. Der Bayer steht gegen Holland vor seinem 100. Länderspiel. Einst stand er für Freude im deutschen Fußball – jetzt für den Niedergang.

Es fröstelte Oliver Bierhoff Sonnabendfrüh auf dem Übungsplatz von RB Leipzig. Der DFB-Direktor rieb sich die Hände, als er vor dem Training der deutschen Nationalelf gefragt wurde, wie er auf das Jahr 2018 zurückblicke. Die Kälte, sie kam bei Bierhoff von außen und innen gleichermaßen. Am Abend zuvor war Deutschland endgültig am Nullpunkt angelangt. Durch den niederländischen Sieg gegen Frankreich (2:0) ist der Abstieg aus der Nations-League-A beschlossen. Bierhoff hatte sich das Spiel im Teamhotel angesehen – und war dann frustriert ins Bett gegangen. „Auf 2018 schaue ich mit dem Gefühl, dass wir am Montag noch erfolgreich spielen wollen und ich dann endlich dieses Kapitel zuschlagen kann“, sagte der 50-Jährige.

Spiel gegen Holland ist beinahe bedeutungslos

Die letzte Nations-League-Partie gegen Holland am Montag in Gelsenkirchen (20.45 Uhr/ZDF) ist sportlich fast bedeutungslos. Sicher, sollte die Elf von Bundestrainer Joachim Löw gegen Oranje gewinnen, würde man sich wenigstens die Möglichkeit erhalten, bei der Auslosung zur EM-Qualifikation als einer der zehn Gruppenköpfe gesetzt zu sein. Allerdings dürfte Portugal am Dienstag wohl nicht gegen Polen verlieren. Als Gruppenkopf blieben einem vielleicht stärkere Gegner auf dem Weg zur EM 2020 erspart. Aber gewiss ist das nicht. „Ich sehe das halbentspannt“, sagte daher Bierhoff. „Unser Anspruch ist es ohnehin, die Qualifikation als Erster oder Zweiter zu schaffen.“ Der Imageschaden dieses Abstiegs ist höher.

Thomas Müller durfte sich aussuchen, ob er dem Abstieg live zusehen, oder lieber einen freien Abend verbringen wollte. Der DFB hatte den Nationalspielern am Freitagabend keinen gemeinsamen Fernsehabend verordnet. Aber wer Müller kennt, der ahnt, dass er sich für das Spiel der Niederländer entschieden hat. Obwohl der 29-Jährige stets als großer Spaßvogel des deutschen Fußballs galt, hat er die Sache immer ziemlich ernst genommen.

Thomas Müller: Als Sündenbock in die Ruhmeshalle

Das Spiel gegen Holland am Montag mag sportlich nahezu bedeutungslos sein. Für Thomas Müller aber nicht. Der Münchner Offensivspieler könnte in Gelsenkirchen sein 100. Länderspiel bestreiten und damit endgültig in die Ruhmeshalle des deutschen Fußballs aufsteigen. Mehr Partien haben nur zehn Spieler geschafft (siehe Infokasten). Doch die Dinge stehen gerade so, dass Müller von einer Würdigung seiner Karriere nichts wissen will. „Natürlich ist das eine Zahl, auf die viel geschaut wird. Im Rückblick ist das vielleicht etwas Besonderes“, sagte er. Aber: „Ich konzentriere mich mehr auf den Fußball, als auf die Statistiken nebendran.“ Stand Müller lange für eine Ära der Freude, für Witz auf und neben dem Platz (man erinnere sich, wie er nach einer verlorenen Wette im rosa Dirndl vor der WM 2014 seine Teamkollegen bediente), so ist er 2018 zu einem Gesicht des Niedergangs geworden.

Die Nationalelflaufbahn von Thomas Müller begann 2010 mit einem Skandal. Nach seinem ersten Länderspiel, einem 0:1 gegen Argentinien im März in München, weigerte sich der argentinische Trainer Diego Maradona, bei der Pressekonferenz Platz zu nehmen. Dort saß nämlich auch dieser 20-Jährige, den Maradona für einen Balljungen hielt. Müller revanchierte sich danach bei der WM, als er gegen Maradona und Argentinien im Viertelfinale traf und mit 4:0 nach Hause schickte. Fünf Tore erzielte Müller in Südafrika und wurde Torschützenkönig. 2014 in Brasilien traf er ebenfalls fünf Mal. Es galt als unausweichlich, dass dieser bayrische „Raumdeuter“ („Spiegel“) den Turnierrekordhalter Miroslav Klose (16 WM-Tore) eines Tages einholen würde – mindestens aber seinen Namensvetter Gerd Müller (14) oder Jürgen Klinsmann (elf).

Nach Höhen kennt Thomas Müller jetzt auch Tiefen

Aber seit Brasilien ist aus dem Glückskind Müller, für den es immer nur nach oben ging, obwohl keiner erklären konnte, warum eigentlich, ein gewöhnlicher Stürmer geworden. Er kennt jetzt auch Tiefen. Weder traf er bei der EM 2016 noch bei der WM zuletzt in Russland. 2018 ist der Niedergang nicht mehr zu übersehen. Das Diktum Louis van Gaals, wonach Müller immer spiele, gilt nicht mehr – weder bei Bayern noch in der Nationalelf. Bundestrainer Löw würde das offiziell nicht sagen, aber er sieht ihn nicht mehr als Stammkraft. Offiziell sagt der 58-Jährige: „Thomas ist ein Spieler, der viel Energie gibt, der die Jungen antreibt. Er hat nach wie vor diesen Abschluss und ist immer in der Lage, Spiele zu entscheiden, auch wenn er gerade in einer schwierigen Phase steckt.“

Das mit der Energie, das bestreitet niemand beim DFB und den Bayern. Der ehemalige Schalker Leon Goretzka, Kollege in beiden Teams, drückte es so aus: „Thomas ist ein ganz besonderer Mensch und Fußballer. Ich persönlich finde ihn immer noch beeindruckend. Wie positiv er jeden Tag angeht. Er gibt einem unheimlich viel Energie. Deshalb ist er immer noch sehr wichtig“, sagte der 23-Jährige. Und vielleicht ist es ja so: Müller, über den sie zu seiner Jugendzeit in München sagten, er schaffe es, einem eigenen Fehler auf Kreisliga-Niveau eine Weltklasseaktion folgen zu lassen. Den sie „Fräulein Müller“ nannten, weil er so wenig Muskeln hatte, dass er bei jeder härteren Gegnerberührung hinfiel. Der für die Atmosphäre eines Teams aber stets von Wichtigkeit war und immer traf. Dieser Müller hat eine Weltkarriere gegen jede Wahrscheinlichkeit hingelegt. Jetzt schrumpft sie langsam zurück auf ein normales Niveau. Übrig bleibt dann einer der sympathischsten Spieler, den dieses Land je hatte.