Essen. Bundestrainer Löw sortiert die Weltmeister Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller aus. Diese Radikalität ist überraschend.

Reisen, sofern man sie nicht hinter dem Steuer eines Autos selbst in Angriff nimmt, verleiten ja zum Erinnern, manchmal sogar zum Träumen. Joachim Löws Gedankenspiele während der Dienstfahrt nach München, die am Dienstag für eine der größten Zäsur in der jüngeren Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sorgte, sind zwar nicht überliefert. Aber es ist irgendwie plausibel, dass dem Bundestrainer dabei noch einmal Bilder von der Weltmeisterschaft in Brasilien vor dem geistigen Auge erschienen sind. Szenen, die zwar erst viereinhalb Jahre alt sind, deren Protagonisten aber doch schon an Ausstrahlung eingebüßt haben. Da war das einzige Tor, erzielt mit dem Kopf, im Viertelfinale gegen Frankreich. Da war der Führungstreffer, der den historischen Halbfinalsieg über am Ende weinende Brasilianer einleitete. Da war dieses Abwehrbollwerk, symbolisiert durch einen unüberwindbaren Hünen, an dem Lionel Messis Argentinier im Endspiel von Rio abprallten. Da waren, in der Reihenfolge zu den genannten besonderen WM-Momenten passend: Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng.

Seit diesem Dienstag liegt die Betonung mehr denn je auf: da waren.

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Denn da waren es drei Weltmeister weniger. Allen drei Stars des deutschen Rekordmeisters FC Bayern teilte Joachim Löw gestern in einer seiner vielleicht heikelsten Unterredungen während der 13 Dienstjahre mit, dass sie künftig in der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes keine Rolle mehr spielten. Eine Ausbootung verdienter Stars, sagen nun einige; ein sinnvoller Schnitt, sagen andere. Auf jeden Fall ist es ein Bruch mit einer Generation, denn Löw schreibt ihnen trotz einer insgesamt durchwachsenen Spielzeit in München immer noch Weltklasse-Leistungen, aufgrund des Alters von 30 (Boateng und Hummels) beziehungsweise 29 Jahren (Müller) aber eben keine weitreichende Zukunft mehr zu. Leistungsträger Samir Khedira (31) hat diese Erfahrung bereits im vergangenen August machen müssen. Aus unterschiedlichen Anlässen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten hatten bereits von sich aus die Rio-Helden Philipp Lahm (35), Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker (beide 34) und zuletzt Mesut Özil (30) ihren Rücktritt bekannt gegeben.

Namen wie Kimmich, Goretzka, Havertz stehen für den Wandel

Deutschland ist seit einem Dreivierteljahr kein Weltmeister mehr – und man gerät beim Blick auf den Kader auch immer seltener in Versuchung, ihn mit diesem Titel in Verbindung zu bringen. Namen wie Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Timo Werner, Leroy Sané, Julian Brandt oder Kai Havertz stehen stattdessen für den Wandel. „2019 ist für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft das Jahr des Neubeginns“, erklärte Löw. Sein Dank für und Hinweis auf „viele erfolgreiche, außergewöhnliche und einmalige gemeinsame Jahre“ verdeutlichen: Für Löw und die genannten Hoffnungsträger geht die Reise mit dem DFB weiter, für Hummels, Müller und Boateng ist sie nach zusammenaddierten 246 Länderspielen mit 44 Toren dagegen definitiv beendet. Zumindest Boateng ließ verlauten, er hätte sich einen anderen Abschied gewünscht und sei traurig. „Dennoch respektiere ich den neuen Kurs und habe Verständnis für die Entscheidung.“

Der Zeitpunkt für die nun beendete Zusammenarbeit zwischen dem Bundestrainer und dreien seiner langjährigen Stützen mag leicht erstaunen, da sich das Trio zuletzt beim FC Bayern wieder in aufsteigender Form präsentieren konnte. Aber für den 59 Jahre alten Löw beginnt mit dem Testspiel gegen Serbien am 20. März und dem ersten EM-Qualifikationsspiel in den Niederlanden vier Tage später ein neuer Nationalteam-Zyklus, in dem er so sehr wie noch nie unter Beobachtung und unter Druck steht. Verantwortlich dafür sind das blamable Vorrunden-Aus bei der letzten Weltmeisterschaft in Russland und der Abstieg aus der Nations League. Der Ruf nach frischen Kräften und neuen Führungsmethoden wurde laut – Löw hört nun auf seine Kritiker und erklärt die Ära der Platzhirsche für beendet. „Wir senden damit ein deutliches Signal der Erneuerung. Die jungen Nationalspieler erhalten den nötigen Raum zur vollen Entfaltung. Sie müssen nun die Verantwortung übernehmen“, sagte er. Seinen Vorgesetzten gefällt die Entscheidung. „Ich begrüße es, dass er den Umbruch unserer Nationalmannschaft jetzt weiter entschlossen voranbringt“, erklärte DFB-Präsident Reinhard Grindel. DFB-Direktor Oliver Bierhoff fügte hinzu: „Wir wollen nun konsequent den Neubeginn auch im Kader sichtbar machen.“

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Inwiefern die personellen Neustrukturierungen schon bald weitere Auswirkung auf noch andere Leistungsträger vergangener Jahre haben könnten, wird nun spannend zu beobachten sein. Ob der Dortmunder Mario Götze (26) noch einmal Thema im DFB-Kreis wird, ist ungewiss. Toni Kroos (29) hat bei Real Madrid an Strahlkraft eingebüßt. Manuel Neuer (32) ist nicht mehr unumstritten. Dem Münchener Torhüter kündigte Löw jüngst direkte Konkurrenz in Person von Marc-André ter Stegen an. Um dem Torhüter des FC Barcelona dies auch persönlich mitzuteilen, war der Bundestrainer am vergangenen Wochenende zum spanischen Clasico nach Madrid gefahren. Auch wenn es danach noch nach München ging: Zumindest bei der Abreise aus Spanien dürfte Joachim Löw eher Bilder von Zukünftigem als Vergangenem vor dem geistigen Auge gehabt haben.