Watutinki. Der Bundestrainer spricht im Interview vor dem Auftaktduell gegen Mexiko über Gelassenheit, Problemfälle – und Cordon Bleu im Kanzleramt.

Joachim Löw (58) befindet sich zweifelsohne in diesen Tagen in Watutinki, jenem Ort in der Nähe von Moskau, der der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der WM in Russland als Hauptquartier dient. Aber eigentlich ist der Bundestrainer so kurz vor dem Anpfiff des ersten Spiels am Sonntag gegen Mexiko (17 Uhr/ZDF live) in seiner eigenen Welt. Einer Welt, in der es nur um Fußball geht. Um das große Ziel: Titelverteidigung. Störendes blendet er aus. Auch das gibt dem Mann, der lange auf der Suche war, Ruhe. Ein Interview.

Herr Löw, nach Wochen der Vorbereitung wird es nun ernst. Was überwiegt: Anspannung oder Gelassenheit?

Joachim Löw: Ich spüre eine große Vorfreude in mir. Die Turniere sind immer etwas ganz Besonderes. Für mich hat die WM noch mal einen höheren Stellenwert als eine EM. Es sind die besten Nationen von unterschiedlichen Kontinenten dabei, mit ganz unterschiedlichen Charakteristiken, die wir in Europa nicht so kennen. Ich freue mich wirklich, auch wenn ich weiß, was von uns erwartet wird. Aber jetzt, wo ich die Mannschaft seit ein paar Wochen zusammen habe, löst das bei mir vor allem eine gewisse Dynamik aus, da komme ich in einen Flow – das macht mir unglaublich Spaß.

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Von Jörn Meyn und Daniel Berg

Sie haben gesagt, dass Sie vor so einem Turnier nichts mehr nervös macht. Was macht Sie denn – vielleicht auch fernab des Fußballs - noch nervös?

Löw: (überlegt lange) Es gibt immer Dinge im Leben, die einen unruhig werden lassen. Ein Mensch ohne Angst ist ja kein Mensch. Gewisse Ängste gibt es immer. Wenn wir aber über das Sportliche reden, habe ich keine Angst, weil ich schon so viele Erfahrungen gemacht habe, was alles passieren kann: Niederlagen, Verletzungen, äußere Umstände. Damit kann ich ganz gut umgehen. Im Vorfeld ist es sogar ganz gut für mich, wenn nicht alles rund läuft – wie zum Beispiel gegen Österreich. Daraus ziehe ich meine Erkenntnisse, das ist noch mal ein Aufrüttler und ein Signal, an manchen Dingen noch mehr zu arbeiten.

Mit der Mannschaft zusammen haben Sie auch sehr unangenehme Dinge erlebt: Den Terroranschlag von Paris, das wegen einer ungenauen Sicherheitslage abgesagte Spiel gegen die Niederlande in Hannover. Auch in Russland besteht die Gefahr von Anschlägen. Schaffen Sie es, das auszublenden?

Löw: Das kann man ausblenden. Ich weiß, was bei so einem Turnier für die Sicherheit getan wird. Wir waren letztes Jahr beim Confed-Cup in Russland und haben uns absolut sicher gefühlt, auch auf den Reisen. Wir sind sehr freundlich und offen empfangen worden. Deshalb gibt es da keine Ängste. Damals in Paris war es natürlich schon etwas anderes, ganz klar.

Wie hat Sie der Titelgewinn von 2014 verändert?

Löw: Ich glaube, dass so ein Erfolg einem noch mehr Gelassenheit gibt. Ich habe vollstes Vertrauen in meine Spieler, in mein Trainerteam, in unsere Qualitäten – auch das lässt mich ruhig sein. Und die Gewissheit, dass wir im Vorfeld alles getan haben, um erfolgreich sein zu können. Die Freude bei so einem Turnier ist größer als der Stress.

Funke-Sport-Redakteur Daniel Berg interviewt Bundestrainer Joachim Löw.
Funke-Sport-Redakteur Daniel Berg interviewt Bundestrainer Joachim Löw. © Getty

Ist das der Vorteil des Bundestrainers gegenüber einem Vereinstrainer?

Löw: Unter anderem. Ich habe zwischen den Turnieren die Gelegenheit mich weiterzubilden. Ich sehe ein Spiel in Spanien, in England, beschäftige mich mit Mexiko, mit Kolumbien, mit dem Weltfußball. Das ist ein wahnsinniger Vorteil, um zu lernen. Rund um die Länderspiele hingegen ist die Zeit kurz und das bereitet mir manchmal große Schwierigkeiten. Da beneide ich ein wenig meine Kollegen in den Klubs, die täglich mit den Spielern arbeiten können. Nach einer langen Pause stelle ich mir oft die Frage, wo jetzt die Prioritäten sind in diesen wenigen Tagen. Bei und vor einem Turnier ist das anders, da hat man auch einen ganz anderen Zugang zu den Spielern. Man kann über Wochen viel näher an die Jungs herankommen, sie noch mehr wertschätzen oder auch Dinge ansprechen, die es zu verbessern gilt. Das ist gut.

Ist es schwieriger, als Nationaltrainer Weltmeister zu werden oder als Klubtrainer einen Verein über Jahre zu prägen und Titel zu holen?

Löw: Beides ist anspruchsvoll. Ich vermisse manchmal die tägliche Arbeit, aber weiß auch gewisse Freiräume zu schätzen. Durch den Blick von oben, ohne den täglichen Druck, habe ich mich enorm weiterentwickelt, weil ich andere Dinge gesehen habe. Ich bin nicht in einer Liga gefangen. Ich sehe andere Nationen, andere Mentalitäten, andere Spielstile – das hat mich unglaublich wachsen lassen, weil es die beste Weiterbildung ist, die es gibt. Wo gibt es welche Entwicklungen, was passiert in Asien, was in Südamerika? Beide Jobs sind anspruchsvoll, aber Weltmeister zu werden, das beste Team der Welt zu sein, ist schon gigantisch.

Welche Unterschiede sehen Sie noch?

Löw: Ich denke manchmal, dass ich als Klubtrainer noch mehr Einfluss nehmen könnte, noch mehr weiterentwickeln könnte. Andererseits ist es großartig, in so ein Turnier zu gehen, wo die ganze Nation hinter dieser einen Mannschaft steht.

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Sie waren als Trainer erfolgreich beim VfB Stuttgart, waren dann in der Türkei, beim Karlsruher SC und in Österreich, ehe Sie 2004 als Co-Trainer zur Nationalelf stießen. War es eigentlich Ihr Traum, Bundestrainer zu werden? Haben Sie jemals damit gerechnet?

Löw: Nein, um Gottes Willen. Ich habe nicht mal eine Sekunde daran gedacht. Ich bin ja relativ jung ins kalte Wasser geworfen worden. Ich hatte eine Idee, einen Plan, aber habe nicht immer die richtigen Lösungen gefunden, wenn es irgendwo gehakt hat. Es ging durch ein Wellental und ich war selber auf der Suche nach meiner Linie, nach einem Gesamtbild. Das hat auch was mit Unerfahrenheit zu tun. Ich muss ehrlich sein: Wäre ich nicht gerade arbeitslos gewesen, hätte Jürgen (Klinsmann, damaliger Bundestrainer, d. Red.) mich ja auch gar nicht angerufen. Und auch als er mir 2006 gesagt hat, dass er nicht weitermacht, dachte ich, dass es für mich ebenfalls in eine andere Richtung weitergeht, dass ich wieder einen Klub übernehme. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich diese Mannschaft übernehmen würde.

Zwölf Jahre später sind Sie die letzte Lichtgestalt des deutschen Fußballs, schweben über den Dingen. So scheint es zumindest.

Löw (lacht): Nein, es gibt im deutschen Fußball einige, die sehr, sehr viel erreicht haben. Ich sehe mich nicht so und ich sehe mich auch nicht in einer Komfortzone. Als Trainer musst Du Dich ständig neu beweisen, Dich neu erfinden.

Sie haben einen persönlichen Draht zur Bundeskanzlerin. Schreibt Frau Merkel Ihnen während eines Turniers eigentlich auch mal eine SMS?

Löw: Der Kontakt zur Kanzlerin läuft eigentlich über Oliver Bierhoff (Nationalmannschaftsdirektor, d. Red.). Wenn sie viel Glück wünscht oder Glückwünsche ausrichten lässt, dann über ihn. Wir sind aber öfter mal im kleineren Kreis bei ihr eingeladen, was für mich immer hoch interessant ist, weil sie dann – genau wie ich - auch mal aus dem Nähkästchen plaudern kann, bei einem guten Essen oder einem Glas Wein. Und eines darf ich verraten…

Gern.

Löw: Ich habe der Kanzlerin mal nebenbei gesagt, dass ich gerne Cordon Bleu mag – mit Pommes oder Bratkartoffeln. Seitdem gibt es immer Cordon Bleu mit Bratkartoffeln, wenn wir im Kanzleramt sind. Und der Koch macht das wirklich überragend.

Fans fiebern mit der deutschen Mannschaft

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    In den zwölf Jahren als Bundestrainer verfügten Sie stets über hochklassige Spieler: Lahm, Schweinsteiger, Ballack zum Beispiel. Wer war der größte?

    Löw: Jeder war auf seine Weise einmalig. Es gibt Spieler, die haben ein riesiges Talent und arbeiten immer hoch konzentriert, diszipliniert – das sind die Topstars. Das war Lahm, das war Schweinsteiger oder jetzt Toni Kroos, Mats Hummels, Jeromé Boateng, Thomas Müller, Sami Khedira oder Manuel Neuer. Dann gibt es Spieler, die haben weniger Talent, aber arbeiten noch intensiver, damit sie auf dieses Niveau kommen – das sind für einen Trainer sehr wichtige Spieler, weil auf sie absolut Verlass ist – ohne vielleicht diesen genialen Moment zu haben. Und dann gibt es Spieler, die haben riesiges Talent, aber sind bequem. Das sind die Spieler, die zu Problemfällen werden können.

    Sie sind Weltmeister-Trainer. Wie motivieren Sie sich stets neu?

    Löw: Ich muss zugeben, dass ich nach der WM 2014 schon einige Monate hatte, in denen ich meine eigene Begeisterung gesucht habe und mir neue Ziele setzen musste. Ich wusste: Wir sind auf dem absoluten Gipfel angekommen – wie soll es jetzt überhaupt weitergehen? Geht es überhaupt noch besser?

    Bundestrainer Joachim Löw im Interview mit Funke Sport Reporter Daniel Berg.
    Bundestrainer Joachim Löw im Interview mit Funke Sport Reporter Daniel Berg. © Getty

    Und dann? Sie haben schließlich jüngst erst Ihren Vertrag bis 2022 verlängert.

    Löw: Ich habe in mich reingehorcht und gemerkt, dass ich auch ein Entwickler sein will. Ich sehe junge Spieler wie Kimmich, Goretzka, Werner, Brandt, Sané und entwickle dann Visionen: Wo können oder müssen diese Spieler in vier, fünf Jahren sein? Was kann man dafür tun? Und wie soll unser Fußball aussehen, den wir spielen wollen? Das war von Anfang an das wichtigste für mich bei der Nationalmannschaft.

    Wie meinen Sie das?

    Löw: Deutschland war immer relativ erfolgreich bei Turnieren, aber die Art und Weise, wie Deutschland gespielt hat, 2000 oder 2004, die hat mir und auch vielen Fans nicht so gefallen. Das war enttäuschend. Ich habe damals zum Jürgen Klinsmann gesagt: Wir müssen wieder unseren eigenen Fußball spielen. Weil das, was wir können, können kleinere Nationen auch: rennen, kämpfen, grätschen. Das ist einfach zu wenig, das war mal in den 80er-Jahren so. Das ist auch heute noch wichtig, aber das alleine kann es nicht sein. Mir war klar, dass wir es mit diesem Stil nie wieder in die Weltspitze schaffen würden. Die deutschen Tugenden müssen auch das spielerische Element beinhalten. Genau das habe ich auch 2014 gesagt: Wir sind Weltmeister, das ist toll, das ist klasse. Aber wenn wir da oben bleiben wollen, müssen wir alles hinterfragen - genau jetzt. Wir brauchen Veränderungen und das wird auch nach diesem Turnier wieder so sein. In Katar 2022 werden wir wieder eine andere Mannschaft haben – und diese aufzubauen, das ist für mich schon jetzt eine riesige Motivation.