Sapporo/Erfurt. Jonathan Hilbert holt über 50 Kilometer Gehen überraschend Silber. Im Anschluss wird er von seinen Emotionen überwältigt.

Als Jonathan Hilbert in der Stunde des Glücks im siebten Himmel schwebte, versagte für einen Augenblick seine Stimme. „Es ist einfach besonders, wenn man ein paar handgeschriebene Worte von seiner Freundin mitbekommt“, erzählte der emotional völlig aufgewühlte Geher und schickte via ARD-Interview einen ganz persönlichen Gruß in die Heimat: „Das ist auch für dich, Anna!“

Am Abend vor dem größten Erfolg seiner Karriere öffnete das glückliche Paar – verbunden über das Internet – gemeinsam den letzten Brief: „Meine Freundin gibt mir unheimlich viel Kraft“, sagte der 26 Jahre alte Leichtathlet, der mit Silber über 50 Kilometer im Gehen für eine Sensation gesorgt hatte.

Hilbert setzt Thüringer Tradition fort und beendet die Flaute

Dass Hilbert in der Hitzeschlacht von Sapporo bei 30 Grad und drückender Schwüle in 3:50:44 Stunden um 36 Sekunden hinter dem Polen Dawid Powala landete, spielte keine Rolle. „Wahnsinn. Bis ich realisiert habe, was gerade passiert ist, wird es noch Wochen und Monate dauern“, schüttelte der Leichtathlet von der LG Ohra-Energie fassungslos den Kopf. Tatsächlich darf der Silber-Coup in die Kategorie historisch eingeordnet werden. Jonathan Hilbert setzte damit die Thüringer Tradition fort, die einst Geher-Legende Hartwig Gauder mit seinem unvergessenen Olympiasieg 1980 in Moskau begründet hatte. Zudem beendete der Erfurter die 29 Jahre anhaltende olympische Medaillenflaute der deutschen Geher.

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„Es ist ein Wahnsinnsglücksgefühl für die Mannschaft. Man findet kaum Worte, der Jonathan hat ein unglaubliches Ding gemacht“, sagte Bundestrainer Ronald Weigel, der 1992 bei den Sommerspielen in Barcelona mit Bronze über die 50 Kilometer die letzte deutsche Olympia-Medaille für die Geher erobert hatte. Der Thüringer hat sich nun auch deshalb ein Denkmal gesetzt, weil die 50-km-Strecke nach 92 Jahren zum letzten Mal zum Olympia-Programm gehörte.

Hilbert hat mit Rückschlägen zu kämpfen

In der Stunde des Triumphes spielte all das aber keine Rolle. Jonathan Hilbert blickte lieber noch einmal zurück – und zeichnete einen Weg zu Olympia nach, der voller mentaler Zweifel und körperlicher Schmerzen war. Im April jubelte er in Frankfurt/Main nicht nur über den deutschen Meistertitel, sondern auch in sensationellen 3:43:44 Stunden über die Weltjahresbestzeit. Die hatte einen Tag Bestand. Das Glücksgefühl angesichts der bevorstehenden Olympia-Premiere dauerte jedoch nur kurz.

Geher Jonathan Hilbert schreit seine Freude heraus. Nach 50 Kilometer überschreitet der Thüringer als Zweiter die Ziellinie im japanischen Sapporo und gewinnt die Silbermedaille.
Geher Jonathan Hilbert schreit seine Freude heraus. Nach 50 Kilometer überschreitet der Thüringer als Zweiter die Ziellinie im japanischen Sapporo und gewinnt die Silbermedaille. © dpa

Adduktorenprobleme und eine Schambeinentzündung zwangen ihn, alternativ zu trainieren. Mehrere Woche konnte er keine Übungseinheiten als Geher absolvieren, saß dafür viel auf dem Rad. Täglich verbrachte er damals drei bis vier Stunden bei Orthopäde Gerald Lutz und Physiotherapeut Torsten Rocktäschel. „Ohne diese unglaubliche Unterstützung hätte ich es nicht geschafft“, sagte Hilbert und bedankte sich zugleich bei seiner Mentaltrainerin Julia Zanev und seinem Heimtrainer Petro Zaslavskyy.

Erst seit 2011 ist Hilbert Geher

Auch für ihn bedeutet das überraschende Olympia-Silber den größten Erfolg. Bei den Spielen 2000 in Sydney hatte Zaslavskyy die Ukrainerin Walentina Sawtschuk auf den zwölften Platz geführt. „Nun Silber, das ist eine ganz andere Nummer“, sagte der Trainer, der seit zehn Jahren, seit Herbst 2011, mit Jonathan Hilbert zusammenarbeitet. Damals wechselte er, der ein Jahr zuvor vom SV 1899 Mühlhausen nach Erfurt gekommen war, als Mittelstreckenläufer ins Lager der Geher.

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Mit Fingerspitzengefühl führte ihn Zaslavskyy nach oben. „Als Jonathan nach seiner Verletzung im Trainingslager in Livigno war, habe ich ihm gesagt, er soll nicht schnell gehen, sondern locker und langsam, aber dafür viel“, erklärte der Trainer. Nun hatte Thüringens neuer Weltklasse-Geher im entscheidenden Moment den langen Atem.

Nach 40 Kilometer ahnt der Trainer Großes

Als sich Hilbert nach einer kurzen Nacht auf den Wettbewerb seines Lebens – Startzeit 5.30 Uhr - vorbereitete, beschlich ihn bereits ein gutes Gefühl: „Ich habe nach dem Aufstehen sofort gemerkt, heute ist ein spezieller Tag. Und den wollte ich unbedingt nutzen.“ Mental stark ergriff er seine Chance. Mit einer taktischen Meisterleistung hielt sich der Erfurter stets weit vorne im Feld, sparte dennoch Kraft. „Ich kenne Jonathan aus dem Training. Als er nach 40 Kilometern zumindest noch richtig gut aussah, da wusste ich, dass es etwas ganz Großes werden könnte“, sagte sein Trainingskollege Karl Junghannß, der Olympia knapp verpasst hatte.

Jonathan Hilbert ist längst nicht am Ziel – wie sein Trainer trotz der Stunde voller Euphorie bemerkte. „Ich habe Jonny gesagt, Silber ist schön. Aber du bist noch nicht am Ende. Nächstes Jahr haben wir eine WM. Und in drei Jahren sind schließlich wieder Olympische Spiele“, sagte Petro Zaslavskyy.