Hans-Christian Ströbele holte einst das erste grüne Bundestags-Direktmandat. Nun ist eine der wichtigsten Stimmen der Partei verstummt.

Der Angriff kam von hinten. Ein vorbestrafter Neonazi zog Hans-Christian Ströbele einen Knüppel über den Kopf, als er auf der Warschauer Brücke in Berlin-Friedrichshain Flugblätter verteilte. Der damals 63-Jährige ging zwar zu Boden, rappelte sich aber wieder auf und verfolgte den Täter.

Zwei Tage nach der Attacke schrieb Ströbele im September 2002 Geschichte: Zum ersten Mal gelang es einem Grünen-Politiker, ein Direktmandat für den Deutschen Bundestag zu erringen.

Nicht wenige in der Grünen-Hochburg Friedrichshain-Kreuzberg sagen noch heute, dass diese Heldengeschichte dazu beigetragen hat, die mehrheitlich alternativ und antifaschistisch gestimmten Bürger des Bezirks für den Direktkandidaten einzunehmen. Ströbele war der Wegbereiter des grünen Aufstiegs in vielen deutschen Innenstädten.

Am Mittwoch wurde bekannt, dass er am Montag nach langer Krankheit in seiner Wohnung am Tiergartener Spreeufer verstorben ist. Er wurde 83 Jahre alt. "Ein Mensch, der für Geradlinigkeit stand und kein Unrecht duldete", würdigte Berlins Verkehrssenatorin und ehemalige Spitzenkandidatin Bettina Jarasch den Mann, der eine ganze Generation von jüngeren Grünen-Politikern weit über Berlin hinaus geprägt hat.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele ist tot

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    Ströbele hatte das erste grüne Direktmandat in Friedrichshain-Kreuzberg

    Zwar war der Anwalt und frühere Verteidiger von RAF-Terroristen schon lange vor 2002 eine bekannte Größe bei den Grünen und auch in der deutschen Politik. Der passionierte Radfahrer hatte Anfang der 1980er-Jahre die Berliner Grünen-Vorgänger Alternative Liste mitgegründet, hatte die linke Tageszeitung "taz" mit aufgebaut, saß immer wieder im Bundestag, agierte als Bundessprecher der Grünen und war sich auch nicht zu schade, in seinem Heimatbezirk Tiergarten in der Bezirksverordnetenversammlung Kommunalpolitik zu machen.

    Aber erst der mit hohem persönlichen Aufwand erkämpfte Wahlsieg vor 20 Jahren machte ihn zur Legende bei den Grünen und gab ihm die Freiheit, weit über Berlin hinaus als linkes Gewissen seiner Partei zu wirken.

    Ströbeles Weg zum politischen Star begann mit einem Misserfolg. Der Landesverband hatte ihm 2002 den sicheren ersten Platz auf der Landesliste verweigert und stattdessen den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz nominiert. Ströbele setzte alles auf die eine Karte Direktmandat – und wurde belohnt.

    Ströbele: Im Bundestag seinen Kreuzberger Wählern verpflichtet

    Seinen Coup wiederholte er bei den Bundestagswahlen 2005, 2009 und 2013, als die Grünen noch nicht wie heute in vielen deutschen Innenstädten dominierten. Seine Stellung als direkt gewählter Volksvertreter ließ ihn im Parlament oft unabhängig von seiner Fraktion agieren.

    Er stimmte im Bundestag gegen den Nato-Einsatz auf dem Balkan und gegen die Euro-Politik, stemmte sich stets gegen eine Einschränkung von Bürgerrechten. Immer wieder lag er im Clinch mit den Grünen-Realos um Joschka Fischer. Er fühlte sich vor allem seinem linken Kreisverband und seinen Wählerinnen und Wählern verpflichtet, wenn er einen muslimischen Feiertag in Deutschland oder die Übersetzung der deutschen Hymne ins Türkische forderte.

    Seinen Parteifreunden im Kreisverband blieb er auch nach seinem gesundheitsbedingten Abschied aus dem Bundestag 2017 stets verbunden, ließ sich sehen, so oft es ihm möglich war, gab Ratschläge, sagte seine Meinung.

    Ströbele: Zwischen linken Positionen und pragmatischem Regieren

    "Sein Stil war immer, Dinge zu hinterfragen, sich eine eigene Position zu erarbeiten und diese auch zu vertreten", beschreibt eine langjährige Weggefährtin sein Vorgehen, mit dem der zunächst in Tiergarten organisierte Politiker schließlich in Kreuzberg politisch heimisch wurde.

    Gewohnt hat er dort aber nie, obwohl er oft seinem Fahrrad durch den Kiez rollte, mit Leuten sprach oder Demonstrationen beobachtete. Wie kaum ein zweiter stand Ströbele für den Kreuzberger Spagat, linke Positionen zu vertreten und dann doch einigermaßen seriös zu regieren.

    Hans-Christian Ströbele auf dem Fahrrad.
    Hans-Christian Ströbele auf dem Fahrrad. © picture alliance/dpa/Archivbild

    Politisch wach war Ströbele bis zuletzt. Seinen letzten Tweet sendete er am 19. August, warnte vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Krieges und vor einem nuklearen Konflikt. Einige Tage zuvor hatte er sich mit einer Botschaft an seine mehr als 280.000 Follower auf dem Kurznachrichtendienst Twitter gewendet.

    Er wunderte sich, warum ausgerechnet die Grünen von ihrem alten Motto "Frieden schaffen ohne Waffen" abgerückt seien und nun mit Blick auf die Ukraine "Frieden schaffen mit schweren Waffen" forderten. Hans-Christian Ströbele hatte nie ein spannungsfreies Verhältnis zu seiner Partei.

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    Ströbele: Als Anwalt von RAF-Terroristen bekannt geworden

    Als Anwalt wurde er in den 1970er-Jahren als Verteidiger von RAF-Terroristen wie Andreas Baader bekannt. Wegen seiner Nähe zu den Staatsfeinden Nummer eins wurde Ströbele 1980 wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" verurteilt. Noch lange danach musste er sich von konservativen Gegnern als Terroristenfreund beschimpfen lassen.

    Im Herzen, sagt Friedrichshain-Kreuzbergs langjährige Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), sei Stroebele immer Anwalt geblieben. Wer von ihm etwas zu Hintermännern der afrikanischen Dealer im Görlitzer Park wissen wollte, musste sich getreu der Unschuldsvermutung von ihm fragen lassen, ob man denn wisse, dass diese Menschen wirklich Drogen verkauften.

    Es waren auch solche Wahrnehmungen auf existierende Probleme, die es den Grünen im Bezirk lange schwer machten, sich manchen Realitäten zu stellen.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.