Winnyzja. Die Stadt Winnyzja liegt weit weg von der Front. Doch am 14. Juli schlagen russische Raketen ein. 26 Menschen sterben. Auch Katia.

In der Wohnstube des kleinen Bauernhofs steht Katias Bild auf dem Tisch, daneben eine Packung Raffaello, die hat sie am liebsten gemocht. Tetiana Hyla sitzt auf einem Stuhl, neben ihr hat Lybov Hyla, die alte, gebrechliche Schwiegermutter, Platz genommen. Die beiden Frauen erzählen von Katia, und sie brechen immer wieder in Tränen aus.

„Ich kann meinen Schmerz nicht mit Worten beschreiben“, sagt Tetiana Hyla, sie kann es noch immer nicht glauben, dass der Krieg, der doch so weit weg von Zhyhalivka schien, ihr die Tochter genommen hat. Aber es gibt kein ruhiges Hinterland in der Ukraine. Der Tod kann jederzeit und überall zuschlagen.

Zhyhalivka, ein Dorf in der ukrainischen Provinz, drei Autostunden südwestlich der Hauptstadt Kiew, umgeben von riesigen Feldern, auf denen Mais, Sonnenblumen und Weizen wachsen. Knapp fünfhundert Einwohner, kleine Häuser, manche aus Backstein, manche aus Holz, eine schlichte Holzkirche mit zwei Türmen, eine Schule, die schon seit längerem geschlossen ist, weil es in Zhyhalivka zu wenige Kinder gibt.

Katia Hyla hat diese Schule noch besucht, sie ist nicht weit entfernt von dem Hof, der seit fast acht Jahrzehnten im Besitz der Familie ist. Auf dem Hof hat sie sich ein Zimmer mit ihrem Bruder und der Großmutter geteilt.

Lesen Sie auch: Wie brutal Putins Truppen den Widerstand in Cherson brechen

Ukraine: In Winnyzja erschien die Front weit weg

Seit einigen Jahren kam Katia nur noch zu Besuch, sie war nach Winnyzja gezogen, der Großstadt gut 50 Kilometer weiter südlich. Winnyzja war zum Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine attackiert worden, mehrere Raketen hatten am 6. März den Flughafen völlig zerstört.

Trümmer liegen vor dem zerstörten Medizincenter in Winnyzia, wo am 14. Juli um 10.45 Uhr eine russische Rakete einschlug. Hier arbeitete auch Katia. Sie überlebte den Angriff nicht.
Trümmer liegen vor dem zerstörten Medizincenter in Winnyzia, wo am 14. Juli um 10.45 Uhr eine russische Rakete einschlug. Hier arbeitete auch Katia. Sie überlebte den Angriff nicht. © Funke Foto Service | Reto Klar

Danach blieben die Stadt und ihre 300.000 Einwohner aber verschont, wenn der Luftalarm kam, interessierte das eigentlich kaum noch jemanden. Bis zur Front im Süden sind es etwa 400 Kilometer. Die umkämpfte Region Donbass liegt in der Ostukraine mehr als 700 Kilometer entfernt. In der Stadt studierte Katia Marketing, das Studium finanzierte sie sich mit einem Job als Rezeptionistin in einem medizinischen Zentrum, dem Yubileinii.

„Wir haben jeden Morgen miteinander telefoniert“, erzählt ihre Mutter. Sie hatten so etwas wie ein Ritual. Katia scherzte immer, sie wolle nicht zur Arbeit gehen, ihre Mutter sagte ihr, dann müsse sie das auch nicht, aber natürlich ging Katia, weil sie pflichtbewusst und ehrgeizig war. Auch am 14. Juli sprechen die beiden morgens miteinander. Dann gehen beide zur Arbeit, Katia ins medizinische Zentrum, ihre Mutter zu ihrem Betrieb in Kaliniwka, der Kleinstadt, zu der Zyhalivka gehört.

podcast-image

Um 10.45 Uhr schlagen drei Kalibr-Raketen Winnyzija ein. Sie stammen aus Russland. Eine explodiert vor dem Bürogebäude, in dem das medizinische Zentrum untergebracht ist. Zwei andere in einem Gebäudekomplex dahinter, in dem früher einmal ein Hauptquartier der Luftwaffe war, jetzt aber nur noch ein Konzertsaal. Die Einschläge hinterlassen gewaltige Schäden. Das Bürogebäude wird völlig zerstört, im Umkreis von 300 Metern werden etliche Häuser schwer beschädigt. Bilder von Überwachungskameras zeigen, wie Passanten von der Druckwelle zu Boden geschleudert werden.

Die Menschen legen Stofftiere und Blumen vor dem zerstörten Medizincenter ab.
Die Menschen legen Stofftiere und Blumen vor dem zerstörten Medizincenter ab. © Funke Foto Service | Reto Klar

Ukraine: Katia wird mit ihrem Brautkleid bestattet

Katia Hyla stirbt sofort. In Kaliniwka hört ihre Mutter von Arbeitskollegen, dass es einen Raketenangriff auf das Yubileinii gegeben hat. Sie versucht panisch, ihre Tochter zu erreichen. Vergeblich. Stunden später findet sie heraus, dass Katia in der Leichenhalle ist. Sie darf ihre Tochter nicht mehr sehen, sie ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Lesen Sie auch: Urlaub in Odessa: Darum kommen Touristen mitten im Krieg

Als sie Katia beerdigen, muss der Sarg geschlossen bleiben. Es ist hier in der Region eine Tradition, dass unverheiratete junge Frauen in einem Brautkleid bestattet werden. Dieses Kleid wird mit in Katias Sarg gelegt. „Ich bin mit ihr verbrannt, innerlich. Es ist eine unfassbare schmerzhafte Leere“, sagt ihre Mutter schluchzend. Katia Hyla wurde 24 Jahre alt.

Zwei Wochen nach dem Raketenbeschuss ist das Ausmaß und die Wucht des Angriffs in Winnyzija noch immer zu erahnen. Vor der Ruine des Bürogebäudes klafft ein großer Krater. Das Erdgeschoss ist ein schwarz verrußte Höhle voller Trümmer. Einige Meter neben der Einschlagstelle haben Menschen Plüschtiere auf den Bürgersteig gestellt. Hier starb ein vierjähriges Mädchen. Ihr Schicksal hat die Menschen in der Ukraine in den vergangenen Wochen besonders erschüttert hat.

Die Beerdigung ihrer Tochter kann sie nicht besuchen

Liza Dmitrieva wurde mit einem Herzfehler und dem Down-Syndrom geboren. Ihre Mutter Iryna hatte immer wieder Bilder und Videos von ihr gepostet. Am Morgen des 14. Juli machen sich die beiden auf den Weg zum Yubileinii, Liza hat einen Termin beim Logopäden. Um 9.38 Uhr veröffentlicht ihre Mutter ein Video, es zeigt, wie die Kleine fröhlich lachend ihren Kinderwagen schiebt.

Wenig später stirbt Liza. Es gibt ein Bild, das ihren umgestürzten Kinderwagen zeigt und ihre Leiche. Ihre Mutter kommt schwer verletzt ins Krankenhaus. Die Beerdigung ihrer Tochter kann sie nicht besuchen.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

In dem ehemaligen Luftwaffen-Hauptquartier hinter dem medizinischen Zentrum soll an diesem Morgen ein Benefiz-Konzert für die Armee stattfinden. Mit dabei ist Yevgen Kovalenko. Er ist 25 Jahre alt, ein Tontechniker aus Kiew und verlobt mit Daryna Sydorenko.

Vor wenigen Tagen hat er seiner Verlobten einen Heiratsantrag gemacht, nicht sonderlich romantisch, auf einer Fahrt auf der Autobahn nahe Riga. „Wir wollten wegen des Kriegs nicht mehr in der Ukraine bleiben, sondern uns in Tschechien etwas aufbauen“, erzählt Daryna Sydorenko in Kiew. Sie wirkt äußerlich ruhig, sie verknotet ihre Finger jedoch mit der Kette ihrer schwarzen Handtasche, als brauche sie etwas, an dem sie sich festhalten kann.

Yevgen, Liza und Katia sterben - und 23 weitere Menschen

Yevgen Kovalenko ist ein sehr vorsichtiger Mensch. „Er ist immer in den Luftschutzkeller gegangen, wenn er den Alarm gehört hat.“ Als Freunde anrufen, und ihm erzählen, dass sie eine Reihe von Konzerten veranstalten wollen, deren Erlöse der Armee zugute kommen sollen, kann er aber nicht nein sagen. „Er hat gesagt, dass er etwas für sein Land machen muss“, erzählt Daryna. Also reisen die beiden zurück in die Ukraine. Daryna Sydorenko bleibt in Iwano-Frankiwski im Westen des Landes. Am 14. Juli trifft ihr Verlobter gegen 10.15 Uhr in der Halle ein, in der das Konzert in Winnyzja stattfinden soll. Kurze Zeit später ertönt der Luftalarm.

„Ich habe das auf meinem Telefon gesehen und versucht, ihn zu erreichen“, sagt Daryna. Sie erreicht ihn nicht. „Mir hat dann ein Kollege von Yevgen gesagt, er wäre in einem Krankenhaus. Da war ich etwas beruhigt. Er war ein starker Mann, er hat 110 Kilo gewogen. Ich war sicher, dass er wieder gesund wird.“ Yevgen Kovalenko erliegt kurze Zeit später seinen schweren Verletzungen.

Neben Yevgen Kovalenko, Liza Dmitrieva und Katia Hyla sterben 23 weitere Menschen durch den russischen Raktenangriff auf Winnyzia. Darunter sind zwei weitere Kinder, zwei Jungs, acht und neun Jahre alt.

Dieser Text erschien zuerst auf waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt