Berlin. An diesem Donnerstag sollen die Wartungsarbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 enden. Fließt wieder Erdgas nach Deutschland?

Dieser Donnerstag ist der Tag der Tage: Fließt dann wieder Gas durch die russisch-deutsche Erdgaspipeline Nord Stream 1? Und wenn ja, wie viel? Der russische Präsident Wladimir Putin hat mit verschiedenen Äußerungen einen Nervenkrieg um das Gas ausgelöst.

Von der Entscheidung in Moskau hängt ab, wie ungemütlich der Winter in Deutschland und Europa wird und wie hart die Folgen für Verbraucher und Wirtschaft sind.

Nord Stream 1: Wie ist die Lage derzeit?

Am 11. Juli wurde die Pipeline Nord Stream 1 wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet. Das geschieht routinemäßig in jedem Jahr und dauert rund zehn Tage. In dieser Zeit fließt kein Gas. Nach ursprünglichen Planungen sollte ab diesem Donnerstag um acht Uhr wieder Gas durch Nord Stream 1 nach Deutschland geliefert werden.

In diesem Jahr ist jedoch alles anders. Der Staatskonzern Gazprom hatte bereits vor dem 11. Juli die Gasexporte um 60 Prozent reduziert – auf 67 Millionen Kubikmeter pro Tag. Begründet wurde dies mit dem Fehlen einer Gasturbine, die von Siemens Energy in Kanada gewartet werden sollte.

Die kanadische Regierung hatte die Verschickung der Turbine wegen der westlichen Sanktionen gegen Russland zunächst gestoppt, später jedoch grünes Licht gegeben. Aus Kreisen der Bundesregierung hieß es, dass die Turbine am Montag in Deutschland gelandet und auf dem Weg nach Russland sei. Weitere Angaben seien aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Der Transport dauert in der Regel vier bis sechs Tage.

Am Mittwochnachmittag gab es zumindest einen Hoffnungsschimmer. Der in Kassel sitzende Netzbetreiber Gascade kündigte an, dass ab diesem Donnerstag wieder Gas durch Nord Stream 1 fließen soll. Gascade betreibt die beiden Empfangspunkte von Nord Stream 1 im vorpommerschen Lubmin. Für beide Punkte sind laut der Gascade-Webseite Gaslieferungen vorgemerkt. Die Anmeldungen können sich allerdings noch bis kurz vor der tatsächlichen Lieferung ändern.

Was sagt der russische Präsident ­Wladimir Putin zu Nord Stream 1?

Die Äußerungen sind widersprüchlich. Einerseits erklärt Putin: „Gazprom erfüllt seine Verpflichtungen, hat sie stets erfüllt und ist gewillt, weiterhin alle Verpflichtungen zu erfüllen.“ Andererseits verknüpft er dies mit Bedingungen. Sollte Russland die gewartete Gasturbine nicht zurückerhalten, drohten weitere Kürzungen. Dann könnte die tägliche Durchlasskapazität der Pipeline Ende Juli wegen der Reparatur eines weiteren „Aggregats“ auf 33 Millionen Kubikmeter fallen.

Das hieße: die Halbierung der Gasmenge, die vor dem 11. Juli geliefert wurde. Gleichzeitig verwies der Kremlchef auf das zu Ende gebaute, aber noch nicht zertifizierte Röhrensystem Nord Stream 2: „Wir haben noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen.“ Der Westen hatte der Pipeline nach Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar definitiv den Stecker gezogen.

Was bedeuten Putins Worte?

Es ist eine Zickzackbotschaft. Putin beansprucht einerseits für den Staatskonzern Gazprom Vertragstreue. Andererseits versucht er, dem Westen wegen der fehlenden Gasturbine den Schwarzen Peter zuzuspielen. Die Bundesregierung zweifelt die Begründung Moskaus für die Unterbrechung der Gaslieferungen an. Dass der Lieferstopp an einer fehlenden Turbine liege, sei ein „Vorwand der russischen Seite“, sagte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums.

Offiziell gibt sich Berlin dennoch optimistisch. Man gehe davon aus, dass nach Ablauf der Wartungsfrist das Gas wieder in vollem Umfang fließen werde, betonte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. Doch intern herrscht Skepsis. Putin betreibe ein „Katz- und Maus-Spiel“, heißt es aus Koalitionskreisen. Russland werde vermutlich etwas Gas liefern, aber zu wenig, um die Wirtschaft wieder unter Dampf zu setzen.

Wie reagiert die Bundesregierung?

Die Bundesregierung will potenzielle Gaslieferungen durch Nord Stream 1 aufmerksam beobachten. Nach einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums bezieht Deutschland nur noch 26 Prozent seiner Gasimporte aus Russland. 2021 waren es noch 55 Prozent. Man wolle mit Blick auf Nord Stream 1 flexibel reagieren, hieß es aus Koalitionskreisen.

Dabei spielten auch Energieeinsparungen von Unternehmen und Verbrauchern, Witterungsbedingungen und zusätzliche Kapazitäten der Flüssiggasterminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel eine Rolle. Beide sollen Ende des Jahres ans Netz gehen.

Der aktuelle Notfallplan Gas der Bundesregierung von 2019 sieht drei Stufen vor: Frühwarnstufe, Alarmstufe und Notfallstufe. Die beiden ersten Stufen, die immer noch auf eine Regelung des Marktes setzen, hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bereits aktiviert. Sollte Russland den Gashahn völlig zudrehen, würde die Notfallstufe greifen. Nach jetzigem Stand sei damit eher im Winter zu rechnen, hieß es aus Regierungskreisen. Mehr zum Thema: Wartung von Nord Stream 1: Das droht, wenn das Gas ausbleibt

Die Verteilung von Gas wird im Notfall durch die Bundesnetzagentur geregelt. Dabei sind bestimmte Gruppen besonders geschützt. Dazu gehören private Haushalte, aber auch Krankenhäuser, die Feuerwehr und Polizei oder Gaskraftwerke, die zugleich der Wärmeversorgung von Haushalten dienen. Die

Unternehmen kämen erst danach. Branchen wie die Chemie- oder Keramikindustrie sind derzeit jedoch extrem von Gas abhängig. Allerdings machte Wirtschaftsminister Habeck klar, dass „im Fall einer Gasmangellage alle Verbraucher einen Beitrag zum Energiesparen leisten müssen“.

Was passiert, wenn Russland die Gaslieferungen auf 40 Prozent reduziert?

40 Prozent wäre der Stand vor Beginn der Wartung am 11. Juli. Nach Berechnungen der Bundesnetzagentur käme die deutsche Wirtschaft damit zunächst klar. Eine Gasmangellage würde nur dann entstehen, wenn Firmen und Verbraucher weder ihren Verbrauch senken noch Flüssiggas rechtzeitig ankommt.

Was passiert, wenn Russland doch kein Gas mehr liefert?

Auch hier spielt eine große Rolle: Wie viel Energie können private Verbraucher und Betriebe einsparen? Liefern die Flüssiggasterminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel wie geplant bis Ende des Jahres? Wäre in beiden Punkten die Antwort negativ, taxieren Wirtschaftsinstitute die Gaslücke auf 107 Terawattstunden.

Bereits im Dezember wäre mit Rationierungen zu rechnen. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2021 wurden in Deutschland 1003 Terawattstunden verbraucht. Könnten dagegen Firmen und Haushalte ihren Gasverbrauch um 20 Prozent senken und würde Flüssiggas wie vorgesehen kommen, träte der Mangel erst im Januar auf.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.

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