Berlin/Nara. Gegen 11.30 Uhr Ortszeit schoss ein Täter auf Ex-Regierungschef Shinzo Abe. Einige Stunden später die Meldung: Der 67-Jährige ist tot.

Als Shinzo Abe zusammensackt, verbreiten sich die Nachrichten wie ein Lauffeuer. Nicht lang dauert es, bis man Fotos des Ex-Premiers mit blutigem Gesicht sehen kann. Und dann weiß man, dass er kein Lebenszeichen mehr gibt.

Fernsehsender geben im Minutentakt Updates zur Lage um den Ex-Premier. Freunde schicken die News, inklusive Videoaufnahmen der Tat, auf dem Handy hin und her. Als Shinzo Abe rund sechs Stunden nach dem Attentat während einer Wahlkampfveranstaltung im westjapanischen Nara stirbt, ist dies schon keine Überraschung mehr.

Shinzo Abe hat Japan geprägt

Dabei dürfte sich Japan noch für einige Zeit in einer Art Schockzustand befinden. Kein Politiker hat sein Land über die letzten Jahre derart geprägt wie Shinzo Abe, der das 125-Millionenland ab 2006 und 2012 für je ein und knapp acht Jahre regiert hat.

Auch nach seinem Rücktritt im Sommer 2020 – der in den Augen vieler Beobachter nach Skandalen um Vetternwirtschaft und die illegitime Verwendung von Steuergeldern viel zu spät kam – verschwand Abe nicht aus der Öffentlichkeit. In der Politik mischte er weiterhin hochaktiv mit.

So passt es zu seiner Karriere, dass Abe während einer politischen Rede starb. In seinem 2006 erschienen Bestseller „Utsukushii kuni e“ (Auf dem Weg zu einer schönen Nation) teilte Abe Politiker in zwei Gruppen ein: Diejenigen, die für ihr Land kämpfen, und die, die das nicht tun. Abe, Spross einer Politikerdynastie und ein unerschrockener Nationalist, zählte sich zur ersten Kategorie. Aufgeben war für ihn keine Option.

Für diesen Sonntag ist in Japan die Wahl des Oberhauses geplant, der zweiten Kammer des japanischen Parlaments. Darin war Abe auch deshalb eingebunden, weil er nach seinem Rücktritt als Premierminister Abgeordneter geblieben ist.

In der übermächtig regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) hat er zudem eine wichtige Faktion angeführt, sodass er auch starken Einfluss auf Personal- und Richtungsentscheidungen zum Kabinett des aktuellen Premierminister Fumio Kishida nehmen konnte.

Eine Frau trauert vor der Yamato-Saidaiji Station, in der Shinzo Abe erschossen wurde.
Eine Frau trauert vor der Yamato-Saidaiji Station, in der Shinzo Abe erschossen wurde. © Philip FONG / AFP

Abe: Ein großes Ziel blieb ihm verwehrt

Wie kaum ein japanischer Politiker hat Abe den Willen verkörpert, Japan militärisch zu stärken. So hat er sich zeitlebens dafür eingesetzt, die von den im Zweiten Weltkrieg siegreichen USA oktroyierten Verfassung umzuschreiben, die Japan in Artikel 9 das Kriegsrecht und ein Militär verneint.

Die stattdessen existierenden und in ihrem Mandat stärker eingeschränkten Selbstverteidigungskräfte wertete Abe in seiner ersten Amtszeit als Premierminister zu einem eigenen Ministerium auf. Doch für die Verfassungsänderung, dem größten Ziel Abes, fehlten in einem pazifistisch eingestellten Land die Mehrheitsverhältnisse.

Dennoch hat Abe einen tiefen Fußabdruck hinterlassen. In seiner zweiten Amtszeit interpretierte er die Verfassung derart um, dass die Selbstverteidigungskräfte fortan strategischen Partnerstaaten zur Hilfe eilen dürften, sofern diese und damit auch Japan existenziell bedroht werden.

Während Kritiker diese Auffassung für verfassungswidrig halten, haben sich Abes Amtsnachfolger Yoshihide Suga und der jetzt regierende Fumio Kishida davon nicht distanziert. Entsprechend forderte Abe als Premier außer Diensten zuletzt auch, dass Japan Taiwan militärisch unterstützen müsse, sofern China eine Invasion starte.

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    Japan diskutiert über Sicherheit

    So fällt die Ironie auf, dass Shinzo Abes politische Karriere und Leben nun offenbar durch einen Mann beendet wurde, dem Abe eigentlich das Beste gewünscht haben müsste. Der direkt am Tatort festgenommene 41-jährige wurde als voriger Offizieller der Selbstverteidigungskräfte identifiziert.

    Ob sein Tatmotiv politische Hintergründe hat, wird über die nächsten Tage und Wochen noch ausführlich diskutiert werden. Bisher ist vor allem bekannt, dass der Mann seine Tatwaffe selbstgebastelt hatte – und so die restriktiven Waffengesetze umgangen hat, die in Japan sonst für ein hohes Maß an öffentlicher Sicherheit sorgen.

    Dabei wird schon jetzt darüber diskutiert, ob das Attentat nicht auch eine Sicherheitslücke offenbart habe. Premier Kishida kündigte kurz nach Abes Tod umgehend an, dass Politiker künftig stärker geschützt werden sollen. Während Schüsse aus der Ferne dadurch kaum unmöglich werden, sendet diese Reaktion die Botschaft, dass ein akutes Problem ernst genommen wird, wenn auch in Form von Symptombekämpfung.

    Die Polizei untersucht den Ort, an dem auf Japans ehemaligen Premierminister Shinzo Abe geschossen wurde.
    Die Polizei untersucht den Ort, an dem auf Japans ehemaligen Premierminister Shinzo Abe geschossen wurde. © 130259+0900/Kyodo News/dpa

    Diskussionen führten bislang ins Nichts

    Auf ähnliche Weise verschwanden nach einem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 sämtliche Mülleimer aus der Öffentlichkeit, sodass dort keine Bomben deponiert werden könnten. Sicherer wurde Japan dadurch eher nicht.

    Auch in der Corona-Pandemie ist eine entsprechende Politik zu erkennen gewesen: Während kaum getestet und erst verspätet mit dem Impfen begonnen wurde, schloss die Regierung rasch die Grenzen – bis heute bleiben sie praktisch dicht.

    Noch vor der Bestätigung von Shinzo Abes Tod am Freitag traf Premier Fumio Kishida noch eine weitere Krisenentscheidung. Alle Kabinettsmitglieder forderte er dazu auf, schnellstmöglich in die Hauptstadt Tokio zu kommen, um sich in dieser Krise zu beraten. Der Wahlkampfmodus, in dem sich die Politiker bis Freitagmittag befunden haben, ist in Trauer- und Krisenmodus umgeschlagen.

    Und eine Hinterlassenschaft von Shinzo Abe dürfte nun sicher sein: Inmitten des Ukraine-Kriegs und den Nachwehen dieses Attentats, wird über die Rolle der Selbstverteidigungskräfte nun wohl wieder mehr gesprochen.

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      Dieser Artikel erschien zuerst bei www.waz.de