Brüssel / Madrid. Von Partnerschaft zur Konfrontation: Der Nato-Gipfel zieht Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg. Das betrifft besonders die Ostgrenze.

Alarmstimmung in Litauen, Besorgnis beim Nato-Gipfeltreffen: Wie weit geht der russische Präsident Wladimir Putin im Baltikum? Russische Hacker legen Websites von litauischen Behörden und privaten Unternehmen lahm, während der Putin-Vertraute und Vorsitzende des Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, Maßnahmen androht, „die schwere Auswirkungen auf die Bevölkerung in Litauen haben“. Andere Offizielle in Moskau stellen bereits die Rechtmäßigkeit der litauischen Grenze in Frage.

Das befeuert den Albtraum im Baltikum: Russland könnte den Landstreifen zwischen Belarus und der russischen Enklave Kaliningrad, den Suwalki-Korridor, besetzen und so das Baltikum vom Rest der EU und der Nato abschneiden. Es wäre ein Spiel mit dem Feuer und Moskaus gefährliche Antwort auf Transportbeschränkungen nach Kaliningrad: Die litauische Eisenbahn hat russische Züge mit Stahl, Metallprodukten oder Zement gestoppt, weil diese Waren unter ein neues EU-Embargo fallen. Ob der Transit nach Kaliningrad unbedingt ein Fall für Sanktionen sein muss, ist in Brüssel umstritten – Russland beruft sich auf ein Abkommen mit der EU von 1994, das den freien Warentransport vorsieht.

Nato: Das Baltikum ist die Achillesferse der Allianz

Doch der Konflikt zeigt, wie schnell die Spannungen im Nordosten des Nato-Gebietes eskalieren können: Das Baltikum ist die Achillesferse der Allianz, hier sehen Experten die größte Gefahr für eine militärische Konfrontation mit Russland. Wenn die 30 Staats- und Regierungschefs der Nato an diesem Mittwoch in Madrid über die Bedrohung durch Russland beraten, haben sie also hochaktuelles Anschauungsmaterial. Ob Moskau das Gipfeltreffen mit den Drohungen ans Baltikum absichtlich stört, ist für die Führung im Nato-Hauptquartier in Brüssel unklar. „Aber das Säbelrasseln erinnert daran, dass die Bedrohung durch Russland besteht“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Die Konsequenz wollen US-Präsident Joe Biden, Kanzler Olaf Scholz und die 28 anderen Teilnehmer nun offiziell besiegeln: Unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine und Putins nuklearen Eskalationsdrohungen beerdigt die Nato alle Bemühungen um Partnerschaft und Dialog mit Russland – und beginnt mit einer neuen Strategie eine massive Aufrüstung an der Ostgrenze der Allianz. Beschließen will der Nato-Gipfel ein „strategisches Konzept“, das Russland zur „bedeutendsten und direkten Bedrohung unserer Sicherheit“ erklärt.

Russland galt noch 2010 als "strategischer Partner" der Nato

Was für ein Kontrast zum vorigen Konzept von 2010, das noch die „strategische Partnerschaft“ mit Russland beschwor. Stoltenberg sagt: „Die Nato hat viele Jahre versucht, einen Dialog mit Russland zu führen – es hat nicht funktioniert, sie haben die Konfrontation gewählt. Jetzt müssen wir uns der Realität stellen.“ Dazu soll die Allianz einen „fundamentalen Wechsel“ von der bloßen Abschreckung zur umfassenden Verteidigungsbereitschaft vollziehen: Die schnellen Eingreifkräfte werden von 40.000 Soldatinnen und Soldaten schrittweise auf 300.000 erhöht – ein Zehntel des militärischen Personals der Nato-Staaten wird dann jederzeit schnell einsatzbereit sein, teils innerhalb von zehn Tagen, teils innerhalb von 50 Tagen.

Deutschland wird dafür voraussichtlich ab 2025 die 10. Panzerdivision im bayerischen Veitshöchheim melden. Im Spannungsfall könnte der Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa im belgischen Mons die schnellen Einsatzkräfte direkt anfordern, ohne umständliche Abstimmungen mit den nationalen Regierungen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Parallel geht die Verstärkung an der Ostgrenze weiter: Schon seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Präsenz dort auf 40.000 Nato-Soldaten gleich verzehnfacht worden, in allen acht Grenzstaaten stehen nun multinationale Nato-Battlegroups.

Deutschland nimmt wichtige Rolle in der Nato ein

Deutschland führt schon seit 2017 die Battlegroup in Litauen mit inzwischen 1600 Soldaten. Jetzt kommen per Gipfelbeschluss zusätzliche Brigaden mit 3000 bis 5000 Soldaten hinzu, je eine in den drei baltischen Staaten und teilweise auch weiter südlich. Deutschland wird die Brigade in Litauen führen, die Bundeswehr hat dazu ein Modell entwickelt, das die anderen Führungsnationen im Baltikum, Kanada und Großbritannien, übernehmen: Munition und Ausrüstung wird ebenso wie ein Teil der Truppe und ein Brigadestab an den Einsatzort verlegt, ein Teil der Soldaten bleibt aber im Heimatland und wird nur zu Übungen und im Krisenfall schnell an die Ostgrenze geflogen. Die Panzergrenadierbrigade 41 Neubrandenburg wird die Aufgabe übernehmen. „Es geht sofort los“, heißt es in der Truppe.

Der Schutz des Baltikums könnte durch den bevorstehenden Nato-Beitritt von Schweden und Finnland erleichtert werden, denn mit den beiden Ländern würde die Allianz den Ostseeraum viel stärker beherrschen als bisher – ein strategischer Gewinn der Nato, mit dem Putin sicher nicht gerechnet hatte. Doch der Plan, beide Länder schon in Madrid am Konferenztisch der Allianz zu begrüßen, ist stark gefährdet.

Nato: Erdogan blockiert das Verteidigungsbündnis

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan blockiert den Beitrittsprozess, weil er Zugeständnisse der Skandinavier bei Waffenlieferungen und beim Umgang mit von ihm als terroristisch eingestuften Kurden-Organisationen erzwingen will. Erdogan nutzt den Konflikt aber wohl auch, um sich Putin als Vermittler im Ukraine-Krieg zu empfehlen. Wochenlange Vermittlungsbemühungen blieben ohne Ergebnis, kurz vor dem Gipfel traf sich Erdogan mit Finnlands Präsident Sauli Niinistö und der schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson.

Die Nato wird auch ein neues Hilfspaket für die Ukraine beschließen, das den Umstieg auf die moderne Ausrüstung der Nato-Staaten erleichtern soll. Die relativ kleine Gemeinschaftskasse der Allianz soll zudem, so hieß es kurz vor dem Gipfel, auf etwa 7 Milliarden Euro pro Jahr erhöht werden, wovon Deutschland etwas mehr als eine Milliarde Euro finanzieren würde.

Gestartet werden soll ein milliardenschwerer Innovations-Fonds, mit dem die Nato ihren – vor allem von den USA gesicherten – globalen Vorsprung in der Rüstungstechnologie wahren will. China sei zuletzt technologisch teilweise an den USA vorbeigezogen, heißt es besorgt in der Allianz. Auch deshalb wird die Volksrepublik im neuen Strategie-Konzept erstmals ausdrücklich erwähnt. Ob China nur eine Herausforderung ist oder, ähnlich wie Russland, eine Bedrohung, darüber wurde unter den Nato-Staaten bis Gipfelbeginn noch gestritten.