Berlin . Der Ukraine-Krieg wird zur Materialschlacht. Wer hält länger durch? Kiew braucht mehr Waffen und Munition. Die Wunschliste ist lang.

Der Krieg um den Donbass ist eine Materialschlacht. Und eine asymmetrische Auseinandersetzung. Denn die Voraussetzungen sind grundverschieden: Das Rüstungsarsenal der Invasoren ist schier unerschöpflich – und in Russland geschützt. Die Ukraine indes hat nicht nur weniger Waffen, ihre Depots liegen auch im Zielspektrum russischer Raketen. Präsident Woldomyr Selenskyj hat eine lange Einkaufsliste, höchste Priorität hat denn auch ein Wunsch: Nach einer Raketenabwehr.

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Zwei fast tägliche Nachrichten, die für den Kriegsverlauf typisch sind. Die russische Armee jubelt, sie habe in der Ukraine ein Depot zerstört, in dem aus dem Westen gelieferte Waffen gelagert gewesen sein sollen. Wenig später meldet das Nachrichtenportal "The Kyiv Independent", das ukrainische Militär habe mehr als 60 Einheiten russischer Ausrüstung im Süden zerstört, darunter Haubitzen und gepanzerte Fahrzeuge. Militärisch läuft es auf eine Kompetenz hinaus: auf die Frage der Durchhaltefähigkeit.

Selenskyjs Wunschliste: 1000 Haubitzen, 1000 Drohnen

Selenskyjs Berater Mykhailo Podolyak hat eine lange Wunschliste der Ukraine publik gemacht; 1000 Haubitzen, 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Kampfpanzer, 2000 bewaffnete Fahrzeuge und 1000 Drohnen. Dahinter steckt ein bestimmtes Kalkül:

  • In Kiew stimmt man sich auf eine Visite der Regierungschefs von Italien, Deutschland und Frankreich ein; drei Staaten, die im Ruf stehen, viel versprochen, aber bisher wenig geliefert zu haben.
  • Die Ukraine hat Informationen, wonach Russland weitere 120 Kriegstage einplant. Dem trägt die lange Wunschliste Rechnung.
  • Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj muss viel einfordern, weil der Westen erfahrungsgemäß nur einem Bruchteil davon nachkommt.

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Die Ukraine hat nach eigenen Angaben nur ein Zehntel von dem bekommen, worum sie gebeten hatte. "Egal wie die Ukraine sich anstrengt, egal wie professionell unsere Armee ist, ohne Hilfe von Partnern werden wir diesen Krieg nicht gewinnen können", warnt Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar. Solche Hilferufe häufen sich, zumal unter dem Eindruck der hohen Zahl der Todesopfer.

Ukraine: Artilleriemunition offenbar "fast vollständig erschöpft"

Das amerikanische "Institute for the Study of War" zitiert den Vizechef des ukrainischen Nachrichtendienstes GUR, Vadym Skibitsky, wonach auf jedes ukrainische Artilleriegeschütz zehn bis 15 russische kämen. Mehr noch: Nach seinen Angaben haben die ukrainischen Streitkräfte ihre Artilleriemunition "fast vollständig erschöpft".

Das ist nachvollziehbar, weil sie überwiegend auf Munition aus Sowjetzeiten zurückgreifen, heute: aus russischer Produktion. Also sind sie auf neue Lieferketten aus dem Westen angewiesen. Sich ausschließlich auf sowjetische Waffen zu verlassen, sei "definitiv eine verlorene Strategie", notiert der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow.

Der Westen aber zögert oder liefert nur unter Vorbehalt. So sagte US-Präsident Joe Biden modernste Mehrfachraketenwerfer lediglich unter der Bedingung zu, dass sie allein in der Ukraine zum Einsatz kommen. Im Klartext: Die Ukraine darf nicht Waffendepots in Russland angreifen. Umgekehrt wird sie selbst aber zum Opfer russischer Raketenangriffe.

Deutschland ist ein Beispiel dafür, warum sich Lieferungen hinziehen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) verwies darauf, dass die Bundeswehr Marder-Panzer selbst brauche. Eigenschutz geht vor. Die Ukraine kriegt nicht, was die Truppe hat, sondern was sie entbehren kann. Oder längst ausgemustert hat wie zum Beispiel der Gepard-Panzer.

Der muss instandgesetzt, die dazugehörige Munition erst beschafft werden. Obwohl Ende April zugesagt, wurden die ersten Gepard erst für Juli in Aussicht gestellt. Die Panzerhaubitze 2000 setzt eine wochenlange Ausbildung voraus. Und das von Kanzler Olaf Scholz (SPD) zugesagte Flugabwehrsystem Iris-T-SLM liegt auch nicht auf Lager. Reparaturen, Ausbildung, Produktion kosten Zeit. Die läuft der Ukraine davon.

Putins Feuerkraft – der Westen müsste dagegen halten

Spätestens hier ist der Zeitpunkt gekommen, auf die andere Seite zu schauen, auf das russische Militär. Auch seine Truppen dürften bei modernen Waffen Nachschubprobleme bekommen. Aber Kremlchef Wladimir Putin mobilisiert alles, was die Feuerkraft erhöht: Zur Not auch längst eingemottete 50 Jahre alte T-62-Panzer oder noch ältere Anti-Schiffsraketen, die auf Landziele abgefeuert werden – mit wahrscheinlich hohen Kollateralschäden (unter Zivilisten), da sie ziemlich ungenau sind.

Wladimir Putin mobilisiert viele Waffen, die russische Feuerkraft im Ukraine-Krieg ist enorm.
Wladimir Putin mobilisiert viele Waffen, die russische Feuerkraft im Ukraine-Krieg ist enorm.

Ein Reporter des Magazins "Rolling Stone" hat an einer einziger russischen Stellung fast 500 abgefeuerte Raketen binnen kurzer Zeit gezählt. Kein Wunder, dass die Ukraine unablässig nach schweren Waffen ruft.

Das Portal Forum on the Arms Trade führt laufend Buch über die Lieferanten, darunter sind neben der EU immerhin 30 Staaten. Bis heute zögert die Bundesregierung mit der Lieferung schwerer Waffen. Eine Auflistung im "Spiegel" weist Deutschland nur die Lieferung von sieben Artillerieeinheiten zu. Zum Vergleich: Die USA haben früh neunzig modernste gezogene 155-mm-Haubitzen des Typ M-777 bereitgestellt.

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Ob Mehrfachraketenwerfer oder schwere Panzer, die Westen hat zu wenig zugesagt, noch weniger geliefert, als dass die Ukraine ihr Territoriums auf Dauer verteidigen könnte. Scholz dürfte das wissen, aber bei einer Visite im Baltikum versicherte er, "es ist so, dass Deutschland einer der wichtigsten militärischen Unterstützer der Ukraine ist, niemand liefert in ähnlich großem Umfang, wie Deutschland dies tut."

Selenskyj begreift Ukraine-Krieg als Materialschlacht

Wie er darauf kommt, bleibt schleierhaft. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft führt ein Ranking der Militärhilfen. In diesem "Ukraine Support Tracker" ist Deutschland in keinem Bereich unter den Top-3. Stellt man die Ausgaben für die Waffenhilfen in Relation zur Wirtschaftskraft, zum Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Lieferanten, rangieren Staaten wie Estland, Lettland, Litauen, Polen, USA, Großbritannien, Kanada, die Slowakei oder Norwegen weit vor der Bundesrepublik (Platz 14).

Die Nato hat das Problem der Ukraine erkannt – und auch, dass es nicht von den Amerikaner allein gelöst werden kann. "Ja, die Ukraine sollte mehr schwere Waffen haben“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg, „denn davon sind sie absolut abhängig, um sich gegen die brutale russische Invasion zu wehren.“ Bis zu 50 Länder der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe berieten am Mittwoch in Brüssel darüber.

Selenskyjs Aufrufe klingen derweil wie Durchhalteparolen. Je höher die Verluste des Feindes im Dombass seien, desto weniger Kraft habe er, die Aggression fortzusetzen, sagt er. Es ist die Beschreibung einer Materialschlacht, eines Abnutzungskriegs. Die Ukraine droht auszubluten.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.