Berlin. Die russischen Streitkräfte haben mehrere ukrainische Orte eingenommen. Sie suchen nicht mehr die große Schlacht. Worum geht es jetzt?

Für die ukrainischen Truppen im Osten des Landes wird die Lage immer brenzliger. Mit massiven Artillerie- und Luftangriffen haben russische Verbände in den vergangenen Tagen die ukrainischen Verteidiger aus mehreren Ortschaften vertrieben. Am frühen Mittwochmorgen wurde die Großstadt Saporischschja im Osten nach Behördenangaben von mehreren Raketen getroffen worden.

„In diesen Angriff wirft die russische Armee alle Kräfte, die sie noch hat“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner Videoansprache. Er zählte die Städte Lyman, Popasna, Sjewjerodonezk und Slowjansk auf. „Die Besatzer wollen dort alles zerstören.“

Donezk: 15 tote Zivilisten binnen 24 Stunden

Es werde großer Anstrengungen des ukrainischen Volkes bedürfen, um die russische Überlegenheit an Rüstung und Technik zu überwinden, so Selenskyj. Allein im Gebiet Donezk wurden nach Angaben der Verwaltung binnen 24 Stunden 15 Zivilisten getötet.

Auch das ukrainische Verteidigungsministerium sprach von einer schwierigen Lage im Kohle- und Stahlrevier Donbass. Offenbar wolle die russische Armee ukrainische Einheiten in den Großstädten Sjewjerodonezk und Lyssytschansk einkesseln, sagte Sprecher Olexander Motusjanyk.

US-Institut: Die Russen verabschieden sich vom Modell Stalingrad

Die Versorgung der ukrainischen Verteidiger dort läuft über eine einzige Straße. Diese sei mittlerweile unter Beschuss durch russische Artillerie und Granatwerfer geraten, schrieb der Experte Nikolay Mitrokhin in der Zeitschrift „Osteuropa“.

Nach Einschätzung des US-Kriegsforschungsinstituts Institute for the Study of War (ISW) hat Russland seine Militärtaktik geändert. Anstatt die ukrainische Armee in einer großen Schlacht im Osten einzukesseln – nach dem Modell Stalingrad –, versuchen die Russen Ortschaften punktuell zu erobern.

„Kleinere Einkreisungen ermöglichen den Russen schrittweise Geländegewinne“

„Russische Einheiten haben wahrscheinlich Anstrengungen aufgegeben, eine einzige großangelegte Einkesselung ukrainischer Kräfte im Osten abzuschließen. Stattdessen streben sie kleinere Einkreisungen an, die ihnen schrittweise Geländegewinne ermöglichen“, heißt es in einer aktuellen Analyse des ISW.

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ZRB_Ukraine Locator_220524_102,2x115mm © dpa | Marc BüttnerJill Starke

Die für lokale Offensiven nötigen Reserven würden aus den Gebieten um Charkiw, Isjum, Donezk und Saporischschja abgezogen. In der letzten Woche seien den russischen Truppen im Gebiet Luhansk mehr Geländegewinne als im gesamten Monat zuvor gelungen, erklärten die Experten des ISW.

Donbass: Der große Durchbruch fand noch nicht statt

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hatte kürzlich im Interview mit unserer Redaktion gewarnt, dass das russische Militär jeden Tag „drei bis vier kleine Dörfer“ einnehmen könne, wenn der Westen nicht mehr schwere Waffen an die Ukraine liefere.

Dennoch kommt das ISW zu dem Schluss: „Einen großen ‚Durchbruch‘ oder einen großen Fortschritt haben die Russen bei ihrem erklärten Ziel, das Gebiet Donezk oder den gesamten Donbass zu erobern, nicht erreicht.“

Selenskyj: Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurück hat

Nach Angaben des Gouverneurs der Region Luhansk, Serhiy Haidai, kontrollierten die ukrainischen Truppen am 15. Mai nur etwa zehn Prozent des Gebiets – vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar waren es noch 30 Prozent. Für Moskau ist die vollständige Eroberung der ukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk wichtiges Kriegsziel. In Luhansk ist dieses Ziel nahezu erreicht.

Präsident Selenskyj machte deutlich, dass er als Gegenleistung für einen Frieden kein ukrainisches Gebiet aufgeben werde. „Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurück hat“, sagte er.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Video-Schalte bei einer Plenarsitzung des Weltwirtschaftsforums in Davos.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Video-Schalte bei einer Plenarsitzung des Weltwirtschaftsforums in Davos. © Gian Ehrenzeller/KEYSTONE/dpa

Putin besucht erstmals seit Beginn des Krieges verletzte Soldaten

Dass der Abnutzungskrieg in der Ukraine auch in Russland Spuren hinterlässt, zeigte sich am Mittwoch. Präsident Wladimir Putin besuchte in einem Moskauer Krankenhaus verletzte Soldaten. Es war Putins erster Besuch bei Verwundeten seit Ausbruch des Krieges.

Die russische Seite gibt ohnehin äußerst spärliche Informationen zu den Toten und Verletzten auf eigener Seite. Letztmals hat das Verteidigungsministerium Ende März Zahlen veröffentlicht. Demnach sind in der Ukraine 1351 russische Soldaten getötet und 3825 verletzt worden. Kiew hingegen gibt die Zahl der getöteten Russen mit fast 30 000 an. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.