Losowa. Helme, Schutzwesten: Freiwillige versorgen die ukrainischen Soldaten mit allem, was ihnen fehlt. Eine Reportage aus dem Kampfgebiet.

Der Lieferwagen stottert seit einer Stunde die Straße entlang. Er versucht, den Schlaglöchern im Asphalt auszuweichen. Hinter dem Lenkrad sitzt Arthem. Gelbe Brille, kurzer Pferdeschwanz. Mit seinen 32 Jahren hat sich der Mann aus Charkiw mit zwei Freunden den Reihen der „Freiwilligen“ angeschlossen.

Ihre Aufgabe? Die an der Front stationierten Soldaten der ukrainischen Territorialverteidigung mit allem zu versorgen, was ihnen fehlt. „Heute werden unsere Jungs zufrieden sein. Wir bringen ihnen Splitterschutzwesten, Helme und Notfallausrüstungen“, sagt er stolz.

Hilfe für die eigenen Kämpfer – die „Freiwilligen“ gibt es schon seit 2014

Im wirklichen Leben ist Arthem Grafikdesigner, nicht Soldat. Auch wenn er für diesen Tag einen Kampfanzug und eine Kevlarweste angezogen hat. „Man weiß ja nie ...“, sagt er und lächelt. Dennoch kennt er den Krieg nur aus der Ferne. Als Asthmatiker konnte er am 24. Februar, als die russischen Truppen in das Land einfielen, weder der Armee noch der Territorialverteidigung beitreten: „Die Listen waren voll. Man brauchte mich nicht mehr.“ Also wich er auf die „Freiwilligen“ aus.

Die „Freiwilligen“ wurden 2014 zu Beginn des Donbass-Krieges ins Leben gerufen. Es ist ein effizientes System, mit dem der Materialmangel der jungen Soldaten, die an die Front geschickt wurden, behoben werden konnte. „Als der Krieg mit den Separatisten im Osten ausbrach, fehlte es unseren Soldaten an allem“, sagt Arthem.

Ein Soldat einer ukrainischen Spezialeinheit inspiziert eine zerstörte Brücke im Norden von Charkiw. Mittlerweile sind die Kämpfer deutlich besser ausgerüstet als noch zu Beginn des Krieges.
Ein Soldat einer ukrainischen Spezialeinheit inspiziert eine zerstörte Brücke im Norden von Charkiw. Mittlerweile sind die Kämpfer deutlich besser ausgerüstet als noch zu Beginn des Krieges. © DIMITAR DILKOFF, Collection: AFP Getty Images

Die ersten Gewehre wurden mit Spendengeld bezahlt

Als die Bevölkerung 2014 sah, wie hilflos ihre eigenen Kinder an der Front waren, beschloss sie zu reagieren und Ausrüstung zu kaufen. Überall in der Ukraine wurde Geld gesammelt, hauptsächlich jedoch im Osten, der direkt vom Krieg betroffen war. „Die ersten Gewehre für unsere Scharfschützen wurden auf diese Weise gekauft, Drohnen, Nachtsichtgeräte, wir hatten nichts“, sagt Arthem.

Und er fügt hinzu: „Die ukrainische Armee ist eine echte Volksarmee. Jeden Tag fahren Hunderte von Leuten wie wir die Frontstraßen entlang, um fehlendes Material und Medikamente zu bringen. Das ist normal. Sie sind es, die für uns kämpfen.“

Ukraine-Krieg: Lieferant Arthem zieht eine Splitterschutzweste an

Aus dem Fenster blickt man auf eine Landschaft mit tiefen Wäldern, die sich mit gepflügten Feldern abwechseln, auf denen die erste Aussaat sprießt. Ein paar Autos fahren schnell vorbei. Weit vorn taucht ein Hubschrauber auf, der durch die Baumkronen fliegt, gefolgt von einem zweiten, bevor sie wieder verschwinden.

Russland kontrolliert Teile des Südens und des Südostens der Ukraine (rosa), doch das angegriffene Land stemmt sich gegen die Invasion und hat die russischen Truppen in manchen Regionen bis hinter die Grenze zurückgedrängt.
Russland kontrolliert Teile des Südens und des Südostens der Ukraine (rosa), doch das angegriffene Land stemmt sich gegen die Invasion und hat die russischen Truppen in manchen Regionen bis hinter die Grenze zurückgedrängt.

Vor uns fährt ein Militärkonvoi mit drei Artilleriegeschützen mit konstanter Geschwindigkeit. „Das sind 203-mm-Kanonen“, sagt Arthem im Kennerton. „Die Front ist gleich hinter Barwinkowa, nur fünf Kilometer entfernt.“

Der Lieferwagen hält in Losowa. Die zweitgrößte Stadt der Region wurde in den letzten Wochen sporadisch bombardiert, bis die ukrainische Armee die Russen zurückdrängte. Arthem zieht vor dem Lieferwagen eine brandneue Splitterschutzweste hervor. „Wir müssen sie anziehen, weil wir in Schussweite sind“, erklärt er und zieht seine eigene an.

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Krieg in der Ukraine: Die Soldaten kommen einzeln – und füllen ihre Vorräte auf

Der Lieferwagen setzt seine Fahrt fort. Blysnjuky ist die nächste Station. Es sind etwa 20 Kilometer zu fahren. Am Ortseingang ändert sich die Stimmung. Die schwere Stille wird plötzlich durchbrochen, als wir auf die Hauptstraße einbiegen. Weniger Zivilisten, mehr Soldaten, die mit der Waffe an der Hüfte in Richtung Supermarkt laufen. Jeder kommt, um seine Vorräte aufzufüllen, bevor er sich wieder auf den Weg zu seinem Vorposten einige Kilometer weiter macht. Lesen Sie mehr:Ukraine-Krieg: Warum Putin die Waffen ausgehen

Der Kommandeur des 122. Bataillons der Territorialverteidigung ist dort, um die Ladung abzuholen. Ein dumpfer Knall ertönt in der Ferne. Einige Minuten später klingelt das Handy des Kommandanten. Nach einem kurzen Gespräch legt er auf. „Einer meiner Jungs wurde soeben von seiner Familie benachrichtigt. Eine Rakete hat Losowa getroffen“, sagt der Kommandant und geht zum Lieferwagen, um die Ladung der „Freiwilligen“ in Empfang zu nehmen.

Der Moment, als eine russische Rakete den Kulturpalast von Losowa trifft. Das Gebäude in der Stadt südlich von Charkiw wird völlig zerstört.
Der Moment, als eine russische Rakete den Kulturpalast von Losowa trifft. Das Gebäude in der Stadt südlich von Charkiw wird völlig zerstört. © ddp/Newscom

Ostukraine: Eine russische Rakete trifft den Kulturpalast von Losowa

20 Minuten später wird die Nachricht bestätigt. Eine Rakete soll den Kulturpalast der Stadt getroffen haben. Im Internet kursiert ein erstes Video. Es zeigt, wie ein riesiges Gebäude sowjetischen Typs unter dem Einschlag der Rakete buchstäblich explodiert.

20 Kilometer später, wieder in Losowa, wirken die Bewohner des betroffenen Viertels benommen und laufen mit erhobenem Blick zu den Fassaden, deren Fensterscheiben weggeblasen wurden. Ein Stück weiter, umgeben von Gebäuderiegeln, wirkt der Kulturpalast wie ein zusammengesunkener Koloss. Das Geräusch von zerbrochenem Glas durchbricht die Stille, die sich über das Viertel gelegt hat. In der Ferne ertönt eine Sirene.

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    Angriffe auf zivile Ziele – die Ukrainer sind immer noch fassungslos

    Der Kulturpalast auf dem Platz erscheint riesig und offenbart den Passanten seine aufgerissenen Fassaden. Die Rettungskräfte bewegen sich vorsichtig zwischen den Trümmern, immer in Angst vor irgendwelcher Streumunition. Dutzende Meter um das Gebäude herum wurde alles weggeblasen. Lesen Sie mehr:Ukraine-Krieg: Selenskyj fordert Milliarden für Wiederaufbau

    Soldaten nähern sich schweigend dem Gebäude, das von der Rakete in zwei Hälften gerissen wurde. In der Nähe steht eine rundliche Dame in einem schwarzen Jogginganzug mit zurückgekämmten Haaren, die aus vorsichtiger Entfernung Befehle gibt. „Holen Sie sie! Es gibt drei ... mehr nach links, da ist es ...“

    Oben, in einem der dem Wind ausgesetzten Büros, arbeiten drei Männer inmitten der Trümmer. „Das war mein Büro“, sagt sie mit feuchten Augen. Eine andere Frau mischt sich ein: „Ein Kulturpalast, das macht doch keinen Sinn“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Was hätte dieser Kulturpalast ihnen antun können?“

    LandUkraine
    KontinentEuropa
    HauptstadtKiew
    Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
    Einwohnerca. 41 Millionen
    StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
    RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
    Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
    SpracheUkrainisch
    WährungHrywnja

    Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.