Warschau/Washington. Mit einer historischen Rede in Warschau stimmte US-Präsident Joe Biden den Westen auf einen langen Kampf gegen Putin und den Kreml ein.

Es begann mit einer Anleihe bei Karol Wojtyla, der als Papst Johannes Paul II. bei seinem ersten Gottesdienst den Gläubigen auf dem Petersplatz 1978 zugerufen hatte: "Fürchtet euch nicht!".

Joe Biden, Amerikas Präsident und Leitwolf des Westens im Kampf gegen die russische Aggression in der Ukraine, übernahm am Samstagabend bei der bisher wichtigsten Rede seiner 14-monatigen Präsidentschaft in Warschau die Losung der Stärke der polnischen Heldenfigur, um die Dringlichkeit der Aufgabe zu beschreiben, vor der die Welt vier Wochen nach Kriegsausbruch stehe.

Biden sieht Ukraine-Krieg als "Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie"

Die "große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird", sagte der 79-Jährige zum Abschluss seiner viertägigen Europa-Reise, "wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen."

Wie dieser Kampf ausgehen wird, hob sich Biden in unerwarteter und historischer Klarheit für den Schluss auf: "Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Gemeint war Russlands Präsident Wladimir Putin. Den indirekten Aufruf, den Kremlherrscher zu entmachten, richtete Biden an das russische Volk, dem er versicherte: "Ihr seid nicht unser Feind. Ich glaube nicht, dass ihr das Bombardieren von Krankenhäusern und Schulen gutheißt. Das sind nicht die Handlungen einer großen Nation."

Das Weiße Haus korrigierte am Abend die Lesart der sensationellen Äußerung des Präsidenten. Biden habe mit "Putin kann nicht an der Macht bleiben" gemeint, dass der russische Präsident keine Macht auf seine Nachbarländer oder die Region ausüben dürfe, sagte ein Regierungsoffizieller. Biden habe nicht über Putins Macht in Russland oder einen Regimewechsel gesprochen.

Biden: Westen muss gegen Russland langen Atem haben

Bidens Kernbotschaft, dass der Westen im Kampf gegen Russland einen langen Atem entwickeln müsse, zog sich wie ein roter Faden durch die Rede. "Das ist die Aufgabe unserer Zeit, die Aufgabe dieser Generation. Wir müssen geeint bleiben – heute, morgen, übermorgen und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten", sagte Biden mit Emphase: "Das wird nicht einfach sein. Es wird Kosten geben". Aber diesen Preis müsse der Westen zahlen. "Denn die Dunkelheit, die die Autokratie antreibt, kann nicht mit der Flamme der Freiheit konkurrieren, die überall die Seele der freien Menschen erleuchtet."

So gesehen hält Biden Putin, den er zuvor als "Schlächter" bezeichnete, schon heute für den großen Verlierer eines "unentschuldbaren, imperialen" Feldzugs. "Ein Diktator, der ein Reich wieder aufbauen will, kann nie die Liebe der Menschen für die Freiheit auslöschen."

Putin, der wie viele Autokraten glaube, "dass Macht Recht gibt", werfe sein Land wirtschaftlich zurück ins 19. Jahrhundert. 200.000 Russen hätten seit Kriegsbeginn die russische Föderation verlassen.

Bidens Rede fand an besonderem Ort statt

Biden sprach an symbolisch hoch aufgeladener Stätte. Das Warschauer Königsschloss, in dessen Innenhof 1000 ausgewählte Zuschauer live dabei sein konnten, ist in Polen ein Symbol für die systematische Zerstörung der Millionenstadt und die Plünderung polnischer Kulturgüter durch Hitlers Nationalsozialsten während des Zweiten Weltkriegs. Aber: Es steht auch für den demonstrativen Wiederaufbau der Warschauer Altstadt nach dem Ende des Krieges.

Biden nahm, mehrfach von Szenen-Applaus unterbrochen, den historischen Faden mehrfach kursorisch auf, in dem er sich vor dem Freiheitsdrang der ost-europäischen Völker verneigte.

US-Präsident Joe Biden hält eine Rede über den russischen Einmarsch in der Ukraine im Warschauer Königsschloss.
US-Präsident Joe Biden hält eine Rede über den russischen Einmarsch in der Ukraine im Warschauer Königsschloss. © dpa

Biden an Ukraine: "Wir stehen an eurer Seite!"

Für die Ukraine hatte der Demokrat, der Mitte der Woche auf einer Gipfel-Dreiklang (Nato, EU und G 7) die Einheit des Westens im Kampf gegen Putin beschwor, diese Botschaft parat: "Wir stehen an eurer Seite!".

Biden erinnerte an die milliardenschwere Militärhilfen der vergangenen Wochen, die nach Analyse aller Experten maßgeblich dazu beigetragen haben, den russischen Vormarsch zu bremsen, wenn nicht zum Erliegen zu bringen. Mehrfach betonte Biden den "außerordentlichen Mut" der Ukrainer, ihr Land gegen den Aggressor zu verteidigen.

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Warnung an Russland: Nato wird sich verteidigen

Eine diplomatische erzielbare Friedenslösung, dies konnte man Bidens teils vehementer Ansprache entnehmen, hält der US-Präsident momentan für unrealistisch. Nur weitere "rasche und strafende Kosten" (sprich Sanktionen) würden Russland, "das von Anfang an zur Gewalt entschlossen war", zu einer Kursänderung bringen.

Mit Nachdruck wiederholte Biden, was er seit Tagen im Stundentakt wiederholt. "Denken Sie nicht mal daran, gegen einen Zentimeter Nato-Gebiet vorzugehen", erklärte er an die Adresse des Kremlherrschers. Amerika und ihre Nato-Partner würden ihrer "heiligen Verpflichtung", das Bündnisgebiet zu verteidigen, "mit der geballten Macht aller Mitglieder" nachkommen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Bidens Rede markierte den vorläufigen Höhepunkt einer drastischen Veränderung der amerikanisch-polnischen Beziehungen – zum Guten. Im Wahlkampf 2020 sah der US-Präsident Warschau noch in der Gefahr, in den Dunstkreise "totalitärer Regime" abzudriften.

Die Ablehnung von Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Mittleren Osten, die über Belarus ins Land kommen wollten, das Torpedieren der unabhängigen Justiz, die dezidiert homosexuellen-feindliche Politik der Regierung, die Einschränkung der Pressefreiheit (etwa beim US-dominierten Sender TVN) stießen dem Amerikaner sauer auf. Die regierende nationalpopulistische PiS-Partei galt in Washington als ebenso problematisch und europafeindlich wie das Ungarn des Viktor Orban.

Joe Biden trägt bei seinem Besuch im PGE Narodowy-Stadion, in dem ukrainische Kriegsflüchtlinge untergebracht sind, ein Kind.
Joe Biden trägt bei seinem Besuch im PGE Narodowy-Stadion, in dem ukrainische Kriegsflüchtlinge untergebracht sind, ein Kind. © dpa

Ukraine-Krieg: Polen hat schon über zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen

Nach vier Wochen Krieg in der Ukraine lobt Biden sein Gegenüber Andrzej Duda für den humanitären Kraftakt, über 2,3 Millionen Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen zu haben. Auch dass Polen das Haupt-Transitland für westlichen Waffen-Transporte in die Ukraine ist, ließ Biden nicht unerwähnt.

Biden begegnete der in Polen grassierenden Angst vor einem Übergreifen des russischen Angriffskrieges mit klaren Worten: Artikel 5, der Beistands-Pakt im westlichen Verteidigungsbündnis: "Sie können sich darauf verlassen", sagte Biden zu Duda - "für unsere und eure Freiheit". Mit dieser Formulierung erinnerte der US-Präsident an eine Parole aus dem polnischen Kampf gegen die russische Besatzung im 19. Jahrhundert.

Bei einem Besuch bei Flüchtlingen im Warschauer PGE Narodowy Stadion sagte Biden im Beisein von Bürgermeister Rafal Trzaskowski tief bewegt: "Ich bin immer überrascht von der Tiefe und Stärke des menschlichen Geistes." Er sei beeindruckt vom "Spirit" der Menschen, von ihrer Widerstandskraft und Leidensfähigkeit.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.