Berlin. Die Entwicklungsministerin über die Lage der Ärmsten – und wie die Industrienationen im globalen Süden gerade Vertrauen verspielen.

Svenja Schulze ist nach dem Regierungswechsel nur ein paar Straßen weitergezogen, vom Umwelt- ins Entwicklungsministerium. Die Corona-Pandemie beschäftigt die SPD-Politikerin weiterhin – allerdings aus anderer Perspektive. Im Interview mit unserer Redaktion sagt Schulze, wie sie Impfstoffspenden an Entwicklungsländer überflüssig machen will.

Frau Ministerin, was richtet die Omikron-Welle in den armen Ländern an?

Svenja Schulze: Omikron zeigt mehr als deutlich, dass die Pandemie nicht vorbei ist. Länder mit niedrigen Impfraten und einem schwachen Gesundheitssystem wie Senegal erleben einen rasanten Anstieg der Neuinfektionen. Es besteht eine erhebliche Gefahr, dass noch mehr Mutationen entstehen. Die Lage in den Entwicklungsländern ist besorgniserregend – auch mit Blick auf die Folgeschäden der Krankheit.

Was beobachten Sie?

Schulze: Wir haben den stärksten Anstieg bei der Armut seit 1998. Es sind mehr als 88 Millionen Menschen durch die Pandemie zusätzlich in Armut geraten. Die Weltbank warnt, dass die Wirtschaft in den Entwicklungs- und Schwellenländern auch in den nächsten Jahren unter den Folgen der Pandemie leiden wird. Corona macht auch Bildungserfolge der letzten zwei Jahrzehnte zunichte. Viele Kinder bleiben bei der Lesekompetenz unter dem Mindestniveau. Kinderarbeit, Kinderehen und Teenagerschwangerschaften nehmen enorm zu. Und Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder Aids breiten sich im Schatten von Corona stärker aus, weil sie schlechter erkannt und behandelt werden können. In den Entwicklungsländern sterben mehr Menschen an den Folgen der Pandemie als an Covid-19 selbst. Die Ärmsten leiden am stärksten.

Geht es beim Impfen voran?

Schulze: Weltweit sind annähernd vier Milliarden Menschen vollständig geimpft. Das ist die größte Impfkampagne der Weltgeschichte. Aber die Impfungen sind sehr ungleich verteilt. In Europa liegt die Impfquote bei 70 Prozent, auf dem afrikanischen Kontinent unter zehn Prozent. Wir können diese Pandemie nur besiegen, wenn wir die ganze Welt impfen. Gelingt dies nicht, gehen wir in eine Endlosschleife mit immer neuen Mutationen. Wir sind nur sicher, wenn alle sicher sind.

In Deutschland wird die vierte Impfung vorbereitet, während Menschen in weiten Teilen der Welt noch ungeimpft sind. Ist das zu verantworten?

Schulze: Die Zeit der Impfstoffknappheit geht zu Ende. Die Aufgabe ist jetzt, die eigene Bevölkerung zu versorgen und zugleich den Entwicklungsländern zu helfen. Es reicht auch nicht mehr, die Impfstoffe nur zu liefern – wir müssen uns mehr darum kümmern, dass sie in den Entwicklungsländern auch zu den Menschen gelangen. Und zwar auch abseits der Städte, wo die medizinische Versorgung noch relativ gut ist. Die Logistik vor Ort ist jetzt das Nadelöhr.

Deutschland hat schon mehr als 100 Millionen Impfstoffdosen gespendet. Allerdings werden die Vakzine teilweise erst kurz vor Ablauf der Haltbarkeit in andere Länder geschickt – und müssen dann vernichtet werden. Was unternehmen Sie dagegen?

Schulze: Das hat es überall gegeben und Karl Lauterbach und ich sind mit dieser Praxis auch nicht einverstanden. Es geht einfach nicht, Impfstoffe zu spenden, die kurz vor dem Ablaufen sind. Das hat nichts mit respektvollem Umgang miteinander zu tun. Afrika ist nicht die Resterampe für abgelaufene Impfstoffe. Was in Deutschland gilt, gilt auch in Entwicklungsländern: Man braucht planbare Lieferungen, um die Vakzine auch verimpfen zu können.

Wenn sich das nicht schnell ändert, geht in diesen Ländern viel Vertrauen verloren. Darum will ich die deutsche G7-Präsidentschaft dazu nutzen, die globale Impf-Allianz Covax mit den nötigen Mitteln für das Jahr 2022 auszustatten. Leider beteiligen sich bisher noch zu wenige Länder an der Finanzierung der globalen Impfkampagne. Neben Schweden, Norwegen, Kanada und den USA sind wir diejenigen, die am meisten geben. Die anderen Industriestaaten haben erheblichen Nachholbedarf.

Wann werden Entwicklungsländer in der Lage sein, ihren Impfstoff selbst zu produzieren?

Schulze: Der Startschuss muss in diesem Jahr fallen. Dafür werbe ich auch in der EU und im Rahmen unserer G7-Präsidentschaft. Gemeinsam erreichen wir viel mehr, als wenn Deutschland alleine unterwegs ist. Mein Ziel ist, dass Entwicklungsländer in Zukunft nicht mehr auf Impfstoffspenden angewiesen sein werden. Dafür ist es ist ganz zentral, dass sie eine eigene Impfstoffproduktion aufbauen. Dabei helfen wir mit Geld und Know-how. Das ist gut für Afrika, aber das ist auch gut für uns in Deutschland. Denn wir mussten alle schmerzhaft lernen, dass Viren und Mutationen keine Grenzen kennen.

In welchem Umfang wollen Sie investieren?

Schulze: Deutschland hat bislang mehr als 500 Millionen Euro für den Auf- und Ausbau der Impfstoffproduktion in Afrika zur Verfügung gestellt. Es reicht ja nicht, eine Fabrik hochzuziehen. Sie brauchen auch die Rahmenbedingungen, von gut ausgebildeten Fachkräften vor Ort bis zu funktionierenden Regulierungsbehörden. Ich möchte das weiter ausbauen. Da ist kluge Entwicklungspolitik gefragt.

Wäre es nicht klug, die Impfstoff-Patente freizugeben?

Schulze: Ich bezweifle, dass die Entwicklungsländer leichter an Impfstoffe herankommen, wenn wir die Patente freigeben. Die Impfstofftechnologie ist sehr komplex und Patente erklären immer nur einen kleinen Teil des gesamten Herstellungsprozess. Das Hauptproblem ist nicht: Wie kommt man an das Patent? Sondern: Wie kriegt man den Impfstoff auch in ärmeren Ländern produziert und anschließend verteilt und verimpft? Dabei helfen Unternehmenspartnerschaften. Es geht um Produktion in Lizenz. Das Know-how für die Produktion von mRNA-Impfstoffen muss in Entwicklungsländer weitergegeben werden.

Scheuen Sie den Konflikt mit Biontech?

Schulze: Nein. Ich bin hier für Pragmatismus. Theoretische Fundamentalpositionen bringen uns nicht weiter. Es kommt darauf an, dass die Produktion läuft. Und das geht gerade jetzt in der Pandemie am besten und am schnellsten mit den Unternehmen zusammen.

Besonders dramatisch ist die Lage in Afghanistan – ganz unabhängig von der Pandemie. Viele Menschen hungern. Haben Sie das Land nach der Machtübernahme der Taliban aufgeben?

Schulze: Nein. Deutschland darf die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen. Und das tun wir auch nicht. Die humanitäre Lage ist wirklich bedrückend. Am Hindukusch herrscht eine der größten humanitären Krisen der Welt. Es fehlt an allem: Nahrung, Wasser, Medizin. Afghanistan befindet sich im freien Fall. Es ist völlig klar, dass wir die Taliban-Herrschaft ablehnen. Aber Deutschland ist weiter eines der wichtigsten Geberländer für die Menschen in Afghanistan. Erst im Herbst hat die Bundesregierung ein Hilfspaket von mehr als 600 Millionen Euro geschnürt. Das Geld, mit dem die UN-Hilfsorganisationen arbeiten, reicht allerdings nicht, um die Grundversorgung der notleidenden Menschen im Land in diesem Jahr sicherstellen zu können. Die Menschen in Afghanistan brauchen längerfristige Unterstützung. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die internationalen Hilfen für Afghanistan weitergehen.

Sollte die Bundesregierung mit den Taliban zusammenarbeiten?

Schulze: Die Taliban sind für uns wie für unsere Partner in der Welt keine legitime Regierung. Wir organisieren deshalb die Unterstützung regierungsfern. Entscheidend ist für uns aber, dass die Hilfe bei den Menschen in Afghanistan ankommt – und das funktioniert nicht, ohne mit den Taliban zu sprechen. Wir können nicht zusehen, wie die Menschen in Afghanistan verhungern, wir müssen ihnen eine Perspektive geben.

Tausende Afghaninnen und Afghanen haben für die deutsche Entwicklungshilfe gearbeitet – und versuchen verzweifelt, das Land zu verlassen. Wie viele von Ihnen können Sie retten?

Schulze: Wir arbeiten weiterhin daran, den Ortskräften und ihren Kernfamilien, die noch nicht das Land verlassen konnten, die Ausreise zur ermöglichen, auch über Drittländer. Besonders wichtig ist für mich, diejenigen Afghaninnen und Afghanen zu retten, die besonders gefährdet sind: Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel. Wir machen da Fortschritte, aber das gelingt durch leise Diplomatie, nicht durch laute Forderungen.

Hat sich Deutschland mit dem überstürzten Abzug der Bundeswehr schuldig gemacht?

Schulze: Die Bundeswehr hat Afghanistan ja nun wirklich nicht im Alleingang verlassen, sondern ist mitgegangen, als unsere Verbündeten abgezogen sind. Wir haben Hilfe und Unterstützung geleistet über viele Jahre und werden auch weiterhin daran arbeiten, Basisunterstützung für die Menschen bereitzustellen. Es wird eine ressortübergreifende Evaluation zum deutschen Engagement geben. Ich trete dafür ein, dass das eine ehrliche, selbstkritische Bilanz wird und die Bundesregierung daraus Lehren zieht.

Haben Afghanen, die es auf eigene Faust nach Deutschland schaffen, eine Bleibeperspektive?

Schulze: Mein Ministerium hat erfasst, wer für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan tätig war. Für all diejenigen, die aufgrund dieser Tätigkeit gefährdet sind, und auch für ihre Kernfamilien, kümmern wir uns um Aufnahmezusagen in Deutschland. Allein in meinem Zuständigkeitsbereich haben seit Mitte Mai 2021 mehr als 12.500 Personen eine solche Aufnahmezusage erhalten. Rund 3.600 hiervon sind bereits mit unserer Unterstützung in Deutschland angekommen.

Sollten Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt bleiben?

Schulze: Mein Ziel als Entwicklungsministerin ist, dabei zu helfen, dass die Lebensbedingungen in Afghanistan so gut sind, dass niemand zur Flucht gezwungen wird.

In Kasachstan sind Proteste gegen die Regierung brutal niedergeschlagen worden. Ein Anlass, die Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen?

Schulze: Die Lage in Kasachstan hat sich Gott sei Dank zwischenzeitlich beruhigt. Die von Russland und anderen entsandten Soldaten sollen in den kommenden Tagen wieder abgezogen werden. Das werden wir aufmerksam beobachten. Die Proteste in Kasachstan und ihre Niederschlagung durch die Sicherheitskräfte geben Anlass zur Sorge. In der Vergangenheit hat sich Kasachstan zumindest wirtschaftlich gut entwickelt; es ist daher bereits seit einigen Jahren kein bilaterales Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mehr. Kasachstan partizipiert jedoch von Maßnahmen, die wir für die Region Zentralasien insgesamt umsetzen, so etwa in den Bereichen Klimaschutz und Entwicklung in der Aralseeregion. Wir werden sorgfältig prüfen, welche Schlussfolgerungen es nun für die weitere Einbindung Kasachstans in diese Regionalvorhaben zu ziehen gilt.