Es ist ein verzweifelter Appell, den die junge Frau sendet. „Trotz zahlreicher Evakuierungsversprechen der deutschen Regierung sitzen wir hier immer noch fest. Kinder werden zertrampelt, es holt uns keiner raus. Keiner antwortet auf die Mails, keiner antwortet auf die Anrufe.“
Bei den letzten Worten in dem kurzen Video aus Kabul bricht die Stimme der Frau. Ihr Haar ist mit einem schwarzen Kopftuch verschleiert. Im Hintergrund ist Stimmengewusel zu hören. Sie sagt: „Wir stecken fest. Bitte holen Sie uns hier raus.“
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Das Video stammt wohl von Dienstag, die Frau möchte offenbar anonym bleiben. Anfragen über soziale Netzwerke lässt sie unbeantwortet. Wie ein weiteres Video nahelegt, ist sie inzwischen in Deutschland angekommen. Doch zeigt die Szene auf beklemmende Weise, wie die Menschen in Kabul leiden. Ein weiterer Nutzer auf Twitter schreibt am Donnerstag: „Die Situation am Flughafen ist extrem!“ Und: „Die Flucht wird immer schwerer! Wir waren 3 Tage vor den Gates!“
Es gibt einzelne Meldungen auch über einige Tote im Bereich vor dem Flughafen. Doch die Nachrichten sind nicht bestätigt, unklar ist, wie die Menschen ums Leben kamen. Klar ist nur: Die Lage spitzt sich zu.
Ein Clip auf Facebook von Mittwoch zeigt das Chaos vor dem Tor zum militärischen Bereich des Flughafens. Hunderte Menschen drängen sich vor das Tor und die hohen Mauern zum Flughafen, darunter Familien, auch kleine Kinder auf den Schultern. Viele Menschen rufen, wedeln mit ihren Papieren, Kinder weinen.
Dann zeigt das Video, wie afghanische Soldaten, die das Tor mit einer Kette bewachen, losschlagen. Mit Knüppeln, mit Gewehrkolben. Schüsse fallen. Es scheint, als würden die Schüsse vor allem in die Luft gehen. Aber Soldaten zielen auch direkt auf Menschen.
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Das „North Gate“, der Zugang zum militärischen Teil zum Flughafen, ist zum Nadelöhr in die Freiheit geworden. In einer Telefonschalte sagt der General Jens Arlt, der den Bundeswehr-Einsatz vor Ort steuert, dass die Lage „hoch dynamisch“ sei. „Es spielen sich dramatische Szenen ab.“
Deutschland konnte bisher knapp 1000 Menschen ausfliegen
Bisher konnte die Bundeswehr in mehreren Flügen in den vergangenen Tagen mit dem Militär-Transporter A400M knapp 1000 Menschen ausfliegen, vor allem Deutsche, aber auch Afghanen und Angehörige anderer Staaten. Die Bundeswehr will bleiben, so lange es geht. Das hebt die Verteidigungsministerin immer wieder hervor. Doch die Bundeswehr ist abhängig von den US-Soldaten. Die Amerikaner kontrollieren den Flughafen in Kabul.
Noch immer sitzen deutsche Staatsangehörige in Kabul fest, wollen per Flugzeug gerettet werden. Aber auch die mehreren Tausend Afghanen, die für die Bundeswehr und andere deutsche Behörden und Organisationen gearbeitet haben, sollen ausgeflogen werden.
Unsere Redaktion steht in Kontakt zu mehreren Ortskräften, die ebenfalls nicht zum Flughafen kommen. Viele schaffen es nicht einmal bis nach Kabul. Sie verstecken sich irgendwo im Taliban-besetzten Afghanistan, bei Freunden, bei Verwandten, und teilweise noch in angemieteten Wohnhäusern, sogenannten „Safe Houses“.
Zum einen sind nach Angaben von Menschen vor Ort die Straßen in Richtung Flughafen überfüllt. Das belegen auch Videos aus der Stadt, Handyaufnahmen. Auch sollen die Taliban immer mehr Checkpoints errichten – und sie lassen offenbar nur noch Ausländer durch oder Menschen mit einem Visum ins Ausland. Doch viele afghanische Ortskräfte haben noch kein Visum aus Deutschland bekommen. Obwohl sie es längst beantragt hatten.
Briten und Franzosen fahren Menschen von der Innenstadt zum Flughafen
Videos von dem „North Gate“ des Flughafens zeigen: Selbst wer es bis dorthin schafft, kommt nicht einfach auf das sichere Gelände. Die amerikanischen Soldaten patrouillieren am Tor, lassen demnach nur vereinzelnd Menschen mit Pässen in den Innenbereich.
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Die Bundeswehr selbst hat nicht dauerhaft Soldaten mit am Außenbereich positioniert, sie stehen erst an Schleusen im hinteren Eingangsbereich. „Die Amerikaner haben ihre eigene Vorstellung, wer zu den Flugzeugen darf und wer nicht“, sagt ein Bundeswehr-Mitarbeiter.
Laut General Arlt ist vor allem schwierig, die Menschen mit einem Visum für Deutschland in der großen Menge vor dem Flughafen-Tor zu entdecken. Das sei die „Suche nach der Nadel im Heuhaufen“. Würden die Soldaten Personen mit deutschen Papieren entdecken, dann würden diese auch durch das Tor kommen, hebt die Bundesregierung hervor.
Briten und Franzosen haben mehren Quellen zufolge in einigen Fällen Menschen in der Innenstadt von Kabul an Sammelpunkten abgeholt und mit geschützten Fahrzeugen zum Flughafen gefahren. Zudem ist die französische Botschaft in Kabul noch geöffnet, dorthin kommen auch afghanische Ortskräfte und Ausländer schneller und besser. Aber auch dort sammeln sich die Massen offenbar im Garten der Botschaft.
Evakuierungen per Helikopter sind heikel
Eine Option ist: Menschen nicht über die überfüllten Straßen zum Flughafen zu fahren, sondern in Militär-Hubschraubern aus dem Zentrum zu fliegen. Die Amerikaner haben über den Luftweg bereits ihre Botschaft evakuiert. Ein solcher Einsatz ist jedoch heikel. Denn die Taliban kontrollieren die gesamte Stadt. Bisher dulden sie, dass Ausländer zum Flughafen fahren. Wie die Islamisten auf einen Einsatz mit dem Helikopter reagieren, ist unklar.
Derzeit verhandelt die Bundesregierung und auch andere Staaten mit den Taliban über einen besseren Zugang zum Flughafen vor allem für die Afghanen, die ausgeflogen werden sollen.
Die deutschen Staatsangehörigen, die noch immer in Kabul festhängen und durchhalten müssen, haben sich mittlerweile in einer WhatsApp-Gruppe organisiert. Sarah schreibt, dass gerade eben 220 Leute ausgeflogen würden. „Aber die Frage ist, wie haben die es reingeschafft.“ (les)
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