London. Die Corona-Zahlen im Königreich steigen wieder – eine Folge der Delta-Mutante. Werden die letzten Maßnahmen doch nicht aufgehoben?

  • In Großbritannien sanken aufgrund der Impfungen lange die Corona-Zahlen
  • Doch dann kam die zuerst in Indien entdeckte Delta-Mutation. Sie sorgte seitdem für einen deutlichen Anstieg der Zahlen
  • Experten befürchten eine vierte Welle - hat das Folgen für die geplanten Lockerungen

Eigentlich sollte der Sommer in Großbritannien die Rückkehr zur Normalität einläuten. Bislang war geplant, dass am 21. Juni die letzten Corona-Beschränkungen im Vereinigten Königreich fallen – die Boulevardpresse sprach bereits vom nahenden „Tag der Freiheit“. Aber die Vorfreude ist mittlerweile verflogen. Stattdessen geht die Angst vor einer vierten Welle um. Lesen Sie hier: So gefährlich ist die Delta-Mutation.

Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass Großbritannien vor einem erneuten Ausbruch der Pandemie steht – trotz des erfolgreichen Impfprogramms. Am Dienstag wurden fast 6000 Neuinfektionen gemeldet, am Mittwoch sogar mehr als 7000 Fälle - die Inzidenz steigt weiter an. Experten fordern, die Öffnung zu verschieben oder die Einschränkungen gar erneut zu verschärfen. Eine vierte Welle sei „unvermeidlich“, sagte die walisische Gesundheitsministerin Eluned Morgan am Sonntag: „Die Frage ist, wie groß diese Welle sein wird.“

Großbritannien lockert Corona-Regeln - trotz indischer Virus-Variante

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    Verantwortlich für die steigenden Infektionszahlen ist die hoch ansteckende sogenannte Delta-Variante des Virus, auch genannt B.1.617.2, die zuerst in Indien registriert wurde. Lesen auch: So dramatisch wütet Corona in Indien

    Laut dem britischen Gesundheitsminister Matt Hancock ist die Mutante bisherigen Informationen zufolge rund 40 Prozent ansteckender als die Kent-Variante (genannt Alpha), die für die verheerende Welle im Dezember und Januar verantwortlich war.

    Besonders schnelle Ausbreitung an Schulen

    • Mittlerweile ist Delta mit 75 Prozent aller Neuinfektionen die dominante Corona-Variante in Großbritannien.
    • Nachdem die Zahl der Neuansteckungen im April und Mai über Wochen bei rund 2000 pro Tag stagnierte, werden seit Anfang Juni wieder deutlich mehr Fälle registriert – am Freitag waren es über 6000 Neuinfektionen, so viele wie zuletzt Ende März. Auch am Mittwoch (9. Juni) lagen die Zahlen auf einem ähnlichen Niveau. Die Inzidenz liegt nach Zahlen unserer Redaktion derzeit bei 57,2 - Tendenz steigend.
    • Besonders in Schulen breitet sich das Virus erneut schnell aus. Innerhalb von vier Wochen wurden fast 100 Ausbrüche in Primar- und Sekundarschulen festgestellt.
    In London genossen viele Menschen in den vergangenen Tagen das schöne Wetter – ohne Maske.
    In London genossen viele Menschen in den vergangenen Tagen das schöne Wetter – ohne Maske. © AFP | Daniel Leal-Olivas

    Die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien, die Anfang Mai bei weniger als 20 Fällen pro 100.000 Menschen lag, ist auf rund 39 geklettert. Das ist zwar noch immer vergleichsweise wenig, aber muss nicht so bleiben. Laut den Gesundheitsbehörden liegt die Reproduktionszahl derzeit zwischen 1 und 1,2: Das heißt, dass die Fallzahlen wieder rasant steigen könnten.

    Impfung womöglich weniger wirksam gegen die neue Variante

    Vergangene Woche warnte die Gesundheitsbehörde Public Health England, dass die Delta-Mutante auch das Risiko der Hospitalisierung erhöht. „Obwohl nur wenige Patienten im Krankenhaus enden, sind es proportional doppelt so viele Delta- wie Alpha-Fälle“, sagte der Immunologe Adam Finn von der Universität Bristol.

    Zudem gibt es Hinweise, dass die Covid-19-Impfungen gegen die neue Mutante weniger wirksam sein könnten: Einer Studie des Francis Crick Institute in London zufolge haben Menschen, denen die Biontech/Pfizer-Impfung verabreicht wurde, weniger Antikörper gegen die Delta-Variante als gegen jene Varianten, die bisher in Großbritannien zirkulierten.

    Gesundheitsminister Hancock ist dennoch zuversichtlich, dass zwei Impfungen den nötigen Schutz bieten. „Die gute Nachricht ist, dass die Impfung genauso gut funktioniert“, sagte er am Sonntag. Das bedeutet aber auch, dass das Immunisierungsprogramm weiterhin auf Hochtouren laufen muss. Bislang haben erst 41 Prozent der Briten zwei Dosen erhalten.

    Premierminister Boris Johnson versprach den Briten eigentlich die Aufhebung aller Corona-Maßnahmen.
    Premierminister Boris Johnson versprach den Briten eigentlich die Aufhebung aller Corona-Maßnahmen. © Stefan Rousseau/PA Wire/dpa | Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

    Für die Regierung stellt sich die Frage, ob der Lockerungsfahrplan angesichts der sich verschlechternden Lage beibehalten werden kann. Am 21. Juni sollten eigentlich die letzten Einschränkungen enden: So soll ab dann jeder soziale Kontakt wieder möglich sein, Live-Veranstaltungen und Hochzeiten können ohne maximale Teilnehmerzahl stattfinden.

    Gesundheitsmitarbeiter warnen eindringlich

    Einige Experten halten es für riskant, daran festzuhalten: „Angesichts der Daten, die wir haben, wäre es töricht, [mit den Lockerungen] weiterzumachen“, sagt der Sozialpsychologe Stephen Reicher von der Universität St. Andrews. Auch Gesundheitsmitarbeiter warnen, dass sie mit einer erneuten Welle kaum fertigwürden – vielen Ärzten und Krankenpflegern „graut es vor dem 21. Juni“, sagte Megan Smith von der Kampagne Every-doctor, die sich für bessere Arbeitsbedingungen für Ärzte einsetzt.

    Andere Fachleute empfehlen, erst einmal abzuwarten, bis die Lage klarer ist, bevor man den Lockerungsfahrplan überarbeitet. Jeremy Farrar, der im Corona-Beratergremium der Regierung sitzt, sagte vergangene Woche, er sei bereit, ein gewisses Maß an Infektionen zu akzeptieren, solange es keine größere Welle an Krankenhausfällen gebe.

    Matt Hancock behält sich vor, die Lockerung zu verschieben. Das Datum des 21. Juni sei nur ein Richtwert, und eine mögliche Verzögerung schon immer eine Option gewesen. Aber innerhalb der Regierungspartei regt sich bereits Widerstand gegen einen solchen Schritt.

    Einige Lockdown-Skeptiker vom rechten Rand der Tory-Partei bestehen darauf, dass die Öffnungen wie geplant stattfinden. Die Regierung wird wohl am 14. Juni endgültig entscheiden, ob der „Tag der Freiheit“ tatsächlich kommt.