Berlin. Die Schere zwischen Arm und Reich wird in Lateinamerika immer größer. In Chile sorgt der Zorn der Massen für die größten Schlagzeilen.

Sozialer Frust ist eine leicht entflammbare Energie. Staut sich genug auf, bedarf es oft nur eines kleinen Funkens, bis sich unterdrückte kollektive Wut entzündet. In Frankreich genügte im Herbst 2018 eine Spritpreiserhöhung zwischen vier und acht Cent pro Liter, um die Gelbwesten-Proteste loszutreten. Vor allem Pendler in ländlichen Gebieten, die auf ihr Auto angewiesen waren, machten gegen die Regierung mobil.

In Lateinamerika findet derzeit eine Gelbwestenbewegung im XXL-Format statt. In Ecuador strich Präsident Lenín Moreno die Subventionen auf Treibstoff. Er wollte damit mehr Geld in die Staatskasse spülen, um einen Kredit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückzuzahlen. Viele Mikrobus-Fahrer, Kleinbauern und fliegende Händler, die gerade so über die Runden kommen, gingen auf die Barrikaden.

Chile: Anhebung der U-Bahnpreise löste Tumulte aus

In Chile macht der Zorn der Massen derzeit die größten Schlagzeilen. Das Anden-Land galt einst ob seiner politischen Stabilität und der relativ guten Wirtschaftszahlen als die Schweiz Südamerikas. Doch die makroökonomischen Daten standen weitgehend nur auf dem Papier. Zwar vervielfachte sich das Pro-Kopf-Einkommen, aber nur wenige merkten etwas davon.

Politik-Korrespondent Michael Backfisch.
Politik-Korrespondent Michael Backfisch. © Reto Klar | Reto Klar

Ein Großteil der Bevölkerung verdient um die 500 Euro pro Monat. Importierte Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke oder Laptops sind hingegen so teuer wie in Europa, den USA oder Ostasien. Vor diesem Hintergrund kann die minimale Erhöhung des Drucks eine maximale Wirkung erzeugen.

Das passierte, als vor rund drei Wochen die U-Bahnpreise in der Hauptstadt Santiago um umgerechnet wenige Eurocent anstiegen. Das klingt wenig. Doch etliche Haushalte müssen alles zusammenkratzen, um über die Runden zu kommen. Viele Bürger machten ihrem Ärger Luft und gingen auf die Straßen.

Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander

Auch von anderer Seite nahmen die Belastungen zu. Während der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) wurde Chile zum Experimentierfeld des Neoliberalismus. Der freie Markt regierte. Bildung, Altersvorsorge und Gesundheit sind weitgehend privatisiert. Nur wer über die nötigen Mittel verfügt, hat Zugang.

Chile steht beispielhaft für die Misere eines ganzen Kontinents. Eine kleine Oberschicht schwimmt im Luxus und verschanzt sich in ihren Nobelherbergen hinter stacheldrahtbewehrten Mauern. Die kaum existente Mittelschicht hat Angst abzustürzen. Die große Mehrheit darbt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den vergangenen Jahren immer weiter auseinandergegangen.

Regierungen zwischen Caracas und Santiago haben kein Konzept

Die politische Elite ist abgehoben oder von Korruption durchsetzt. Selbst die Vorkämpfer der Armen wie Boliviens Präsident Evo Morales sind davor nicht gefeit. Dieser hat mehrfach die Verfassung gebeugt, um bei Wahlen wieder antreten zu können. Tausende demons­trierten, weil sie hinter Morales’ letztem Erfolg Tricksereien sahen.

Die Regierungen zwischen Caracas und Santiago haben kein Konzept, wie sie einen rohstoffreichen Kontinent zu mehr Wohlstand bringen. Einige wenige profitieren, die große Mehrheit kommt auf keinen grünen Zweig. Solange die Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt nach oben schossen, hatte der Staat genug Geld, um den Sprit erschwinglich zu halten. Sorgen niedrigere Preise für gerin­gere öffentliche Einnahmen, müssen die Bürger tiefer in die Taschen greifen.

Notwendig wäre die Quadratur des Kreises aus wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Balance. Davon ist Lateinamerika weit entfernt. Europa leidet unter den dort vorherrschenden Ex­tremen nicht, weil es unterschiedliche Formen der sozialen Marktwirtschaft gibt. Eine Garantie, dass dies so bleibt, ist das aber nicht. Das haben die Gelbwesten-Proteste in Frankreich gezeigt.