Moskau. Die Moskauer Polizei geht brutal gegen Demonstranten vor. Einer ihrer führenden Köpfe fürchtet indes sogar, vergiftet worden zu sein.

Für die russische Opposition war es eine Schrecksekunde. Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde am Montag nach einem angeblichen Allergieschock aus dem Krankenhaus entlassen. Er werde nun wieder ins Gefängnis gebracht, sagte Nawalnys persönliche Ärztin Anastassija Wassiljewa. Sie hatte zuvor eine Vergiftung nicht ausgeschlossen und vor einer frühzeitigen Entlassung gewarnt.

Nawalny war am Sonntag aus der Haft in die Klinik gebracht worden. Seine Sprecherin gab als Grund eine akute allergische Reaktion an. Nawalny war am Mittwoch zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil er zu nicht genehmigten Protestaktionen aufgerufen hatte. Hintergrund war, dass Oppositionelle und unabhängige Kandidaten nicht zu den Moskauer Stadtratswahlen in sechs Wochen zugelassen wurden.

Nawalny zweifelt an Diagnose der Moskauer Ärzte

Nawalny beantrage am Donnerstag offiziell eine Ermittlung in seinem Fall. Der 43-Jährige habe eine chemisch-toxikologische Untersuchung erbeten, teilte sein Anwalt Wadim Kobsew im Kurznachrichtendienst Twitter am Donnerstag mit. Zudem sollten Aufnahmen der Videoüberwachung in der Arrestzelle ausgewertet werden.

Nawalny bezweifelt die Diagnose der Ärzte, wonach er womöglich Nesselfieber gehabt habe. Menschenrechtler beklagen immer wieder teils lebensgefährliche Zustände in russischen Gefängnissen.

Der russische Oppostionspolitiker Alexej Nawalny in einen Gerichtssaal in Moskau.
Der russische Oppostionspolitiker Alexej Nawalny in einen Gerichtssaal in Moskau. © dpa | Pavel Golovkin

Das Team Nawalnys brachte indes neue Enthüllungen – diesmal gegen die stellvertretende Moskauer Bürgermeisterin Natalja Sergunina. In ihrem familiären Umfeld sei ein Vermögen von 6,5 Milliarden Rubel (rund 92 Millionen Euro) gefunden worden. Nawalnys Team warf ihr vor, öffentliches Eigentum zu plündern. Sergunina zeichne verantwortlich für die Wahlen und versuche, wegen der Korruptionsenthüllungen die Opposition an der Teilnahme bei der Abstimmung zu hindern.

Die Moskauer Behörden demons­trieren seit Tagen eine Härte im Umgang mit der Opposition, die nach Ansicht vieler Beobachter brutale Ausmaße angenommen hat. „Die Sicherheitsorgane haben alle Grenzen überschritten“, sagte der Menschenrechtler Lew Ponomarjow unserer Redaktion. „Ob nun Putin die Kommandos dazu gegeben hat oder die Polizeichefs vor Ort.“ Auch die Bundesregierung übte scharfe Kritik. Der Einsatz der russischen Sicherheitskräfte sei „unverhältnismäßig“ gewesen, rügte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer.

1373 Festnahmen: „Das ist absoluter Negativrekord“

Am Samstag waren bei Protesten in der Moskauer Innenstadt nach Angaben des Rechtsschutzportals OWD-Info 1373 Demonstranten festgenommen und 25 mit Gummiknüppeln zusammengeschlagen worden. „Absoluter Negativrekord“, schrieb die Zeitung „Kommersant“. Zwei Demonstranten landeten mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus. Schon am Vortag waren zahlreiche Kandidaten für die im September anstehenden Stadtratswahlen festgenommen worden.

Einen derartigen Kurs der Eskalation erlebt Russland seit Jahren. Oppositionelle Politiker werden erst gar nicht zu Wahlen zugelassen, Kundgebungen gegen die Willkür der Staatsmacht nicht genehmigt. Demonstranten, die sich trotzdem auf die Straße wagten, landeten in den vergitterten Bussen der Polizei. „Die Schlüsselentscheidungen in Moskau fällen nicht die städtischen Behörden“, kommentierte die Wirtschaftszeitung „Wedomosti“, „sondern die Leiter der föderalen Sicherheits- und Geheimdienste.“

Tausende hatten in Moskau demonstriert

Kremlnahe Beobachter machen die Opposition für die Gewalt in der Moskauer Innenstadt verantwortlich. „Das war keine friedliche Aktion“, sagte der Politologe Alexei Muchin. „Das war eine scharfe, organisierte Provokation. Die Demonstranten selbst haben Sprengsätze verwendet. Die Reaktionen der Ordnungshüter waren noch gemäßigt.“

Bei den Protesten am Samstag in Moskau war die Polizei brutal gegen Demonstranten vorgegangen.
Bei den Protesten am Samstag in Moskau war die Polizei brutal gegen Demonstranten vorgegangen. © dpa | Pavel Golovkin

Allerdings ist nichts über ernsthaft verletzte Polizisten bekannt. Die Staatsagentur RIA Nowosti verwies darauf, dass die Sicherheitskräfte in Frankreich oder Deutschland oft auch Tränengas oder Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzen. Aber die 5000 bis 15.000 Menschen, die am Samstag in Moskau auf die Straße gegangen waren, hatten sich weder vermummt, noch demolierten sie Geschäfte oder Pkw.

„Die Menge benahm sich friedlich“, erklärte Ilja Schablinski, Mitglied des Präsidialen Menschenrechtsrats. „Ihre einzigen Mittel gegen die Polizeikolonnen waren Sprechchöre und Ortswechsel.“ Er sieht hinter dem Vorgehen der Sicherheitskräfte „demonstrative Grausamkeit und das Bedürfnis, Angst zu machen“. Die Behörden sollten ihre Politik bei der Genehmigung von Massenkundgebungen überdenken, weil nicht erlaubte Demonstrationen für immer mehr Menschen zur Norm würden.

Anfang September stehen in Moskau Stadtratswahlen an

Wie das Nachrichtenportal meduza.io meldete, haben mehrere Aktivisten in Moskau die Initiative „Ordnungshüternummer“ gegründet: Ihr Ziel ist es, die Uniformen der Einsatzpolizisten bei künftigen Großkundgebungen mit deutlich sichtbaren Erkennungsnummern zu versehen. Aber ein Großteil der Beo­bachter sieht nicht die Aggressivität einzelner Beamter als Hauptgrund für die eskalierende Polizeigewalt.

Der russische Präsident Wladimir Putin.
Der russische Präsident Wladimir Putin. © Reuters | Sputnik

Die Anfang September in Moskau anstehenden Stadtratswahlen drohen für Wladimir Putins Partei Einiges Russland mit einer schweren Schlappe zu enden. Nach einer Umfrage der Stiftung Petersburger Politik wollen nur noch 13 Prozent der Moskauer für die Einheitsrussen stimmen. Wie kläglich die Lage der Staatspartei ist, demonstriert der Entschluss, die Parteizugehörigkeit ihrer eigenen Kandidaten im Wahlkampf zu verbergen. „Die Partei verliert seit Jahren in ganz Russland Regionalwahlen, selbst gegen Spoilerkandidaten der kremlnahen Pseudoopposition“, sagte der Politologe Juri Korgonjuk.

Seit fünf Jahren stagniert die Wirtschaft in Russland

Dabei sind die Moskauer Proteste bisher zahlenmäßig schwach, nach verschiedenen Schätzungen waren am Samstag maximal 15.000 Menschen auf der Straße. Zum Vergleich: Bei den Protesten 2011 und 2012 demonstrierten 50.000 bis 100.000 Moskauer gegen Wladimir Putin – die Kundgebungen fielen in seine Zeit vom Wechsel als Ministerpräsident zurück ins Präsidentenamt.

Er saß sie aus. In diesen Tagen drückt jedoch die seit fünf Jahren stagnierende Wirtschaft auf die Stimmung. Im ersten Halbjahr 2019 sank das Realeinkommen der Russen um 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Wirtschaftsexperten sehen kein Ende des Abwärtstrends. Die Möglichkeit sozialer Unruhen wächst.

Und Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin greift jetzt zu den gleichen Mitteln wie andere russische Gebietsgouverneure, die unter Druck geraten: Sie schließen oppositionelle Kandidaten von den Wahlen aus. Demonstranten, die aus Protest auf die Straße gehen, werden auseinandergejagt.

Politologe: Putin fürchtet „Orange Revolution“

Ganz ungefährlich sind die Ereignisse für den Kreml nicht. „Putin fürchtet eine sogenannte Orange Revolution“, betonte der Politologe Korgonjuk. „Dazu gehören Straßenproteste und eine Opposition, die wenigstens auf regionaler Ebene schon Ämter besitzt.“ Die Orange Revolution war eine Serie von Protesten, Demonstrationen und einem geplanten Generalstreik in der Ukraine.

Auslöser waren die ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2004, bei welchen auf beiden Seiten Wahlfälschungen der jeweiligen Gegenseite gemeldet wurden. Erst rund zehn Jahre später kam es zu den großen Maidan-Protesten in Kiew. Davon ist Moskau jedoch weit entfernt.

Nachdem er wegen Protestaufrufen zu 30 Tagen Haft verurteilt worden war, musste Kreml-Kritiker Alexej Nawalny am Wochenende aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Er wurde wegen einer akuten allergischen Reaktion behandelt, schrieb seine Sprecherin am Sonntag bei Twitter.

Inzwischen hat Nawalny das Krankenhaus wieder verlassen. Er werde wieder ins Gefängnis gebracht, sagte seine persönliche Ärztin Anastassija Wassiljewa am Montag in Moskau vor Reportern.

Auch in einem Video war zu sehen, wie Nawalny die Klinik in Richtung Ausgang verlässt.

Nawalny plötzlich erkrankt – Ärztin schließt Vergiftung nicht aus

Zuvor hatten Ärzte in der Klinik Nawalnys Gesundheitszustand als „zufriedenstellend“ bezeichnet. Der Auslöser der allergischen Reaktion ist laut Nawalnys Sprecherin noch unbekannt. Der Oppositionsführer habe so etwas noch nie in seinem Leben gehabt.

Die Angaben zu der Erkrankung sind widersprüchlich. Eine seiner eigenen Ärztinnen hatte den Verdacht geäußert, Nawalny sei mit einer unbekannten Substanz vergiftet worden. Eine Schwellung im Gesicht könnte auf giftige Chemikalien zurückzuführen sein, schrieb die Ärztin Anastasia Wassiljewa am Montag bei Facebook.

Anastassija Wassiljewa, persönliche Ärztin des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny.
Anastassija Wassiljewa, persönliche Ärztin des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny. © dpa | Uncredited

Ein Krankenhausarzt wiederum hatte von einem Anfall von Nesselsucht gesprochen. Weder Nawalny selbst noch seine Angehörigen hätten bislang eine Diagnose genannt bekommen, sagte Wassiljewa vor Journalisten.

Mehr als tausend Festnahmen bei regierungskritischer Demo in Moskau

Nawalny hatte vor seiner jüngsten Verurteilung zu Protesten aufgerufen, bei denen Oppositionelle am Samstag in Moskau die Zulassung unabhängiger Kandidaten bei der Regionalwahl in sechs Wochen einforderten.

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gab es mehr als tausend Festnahmen.

Die Kundgebung im Zentrum der russischen Hauptstadt galt als heftigster Protest gegen das politische Systems Russlands seit Jahren.

(ba/rtr/dpa)