Berlin/Karlsruhe. Nach dem Mord an Walter Lübcke steht Rechtsextremist Stephan E. unter Tatverdacht. Sein Anwalt erhebt nun Vorwürfe gegen die Ermittler.

Stephan E. trägt eine schwarze Sturmhaube. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Nur die Augen, die in Richtung Fotografen schauen. Er trägt Handschellen und Fußfessel. Polizisten führen den mutmaßlichen Mörder des Regierungspräsidenten Walter Lübcke am Dienstag nach einem Termin beim Haftrichter ab. Der Bundesgerichtshof hat einen neuen Haftbefehl gegen E. erlassen und Untersuchungshaft angeordnet.

Das Geständnis, das der 45 Jahre alte Tatverdächtige noch vor einer Woche abgelegt hatte, hat er nun widerrufen. Das erklärte sein Anwalt auf Nachfrage unserer Redaktion. Am 2. Juni soll E. den hessischen Politiker durch einen Kopfschuss auf seiner Terrasse getötet haben.

Dem „Spiegel“ gegenüber erhebt E.s Anwalt des Weiteren schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden. Seiner Meinung nach seien Informationen aus dem mittlerweile widerrufenen Geständnis an die Öffentlichkeit gelangt, „die nach Lage der Dinge nur aus der originalen Ermittlungsakte der Bundesanwaltschaft stammen können“. Er habe deswegen Strafanzeige wegen Verdachts des Geheimnisverrats erstattet, berichtet der „Spiegel“ weiter. Seitens der Behörde gab es zu den Vorwürfen zunächst keinen Kommentar.

Rechtsextreme wollen in Kassel demonstrieren

Rechtsextreme haben im Zusammenhang mit dem Fall für den 20. Juli eine Demo in Kassel angemeldet. Die Kleinstpartei „Die Rechte“, der der Verfassungsschutz ein rechtsextremistisches Potenzial zuschreibt, hat auf ihrer Internetseite zu einer Demo aufgerufen. Sie spricht von einer gezielten Instrumentalisierung des Attentats auf den CDU-Politiker, mit dem Rechte in die Nähe von Gewalt und Terror gerückt würden. Zudem soll es eine linke Gegendemo unter dem Motto „Naziaufmarsch verhindern“ geben.

Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird zum Bundesgerichtshof gebracht.
Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird zum Bundesgerichtshof gebracht. © dpa | Uli Deck

Man habe Kenntnis, dass von beiden Seiten Anmeldungen für den 20. Juli vorlägen, sagte ein Sprecher der Polizei in Kassel am Montag. Man bereite sich auf den Einsatz vor, um einen störungsfreien Ablauf der Veranstaltungen zu gewährleisten, sagte der Polizeisprecher.

Angaben zur erwarteten Zahl der Demonstranten machte er nicht. Die Rechten hätten 100 Teilnehmer angegeben, die Linken 1000. „Die Angaben müssen aber nicht mit der Realität übereinstimmen“, erklärte die Polizei.

Der 20. Juli hat im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus eine besondere Bedeutung. An diesem Tag scheiterte 1944 das von Oberst Graf von Stauffenberg geplante Bombenattentat auf Adolf Hitler.

Stephan E.: Schon 2017 und 2018 mit Waffe zu Walter Lübcke gefahren

In dem widerrufenen Geständnis soll der Tatverdächtige einem Bericht zufolge angegeben haben, die Tat schon seit Jahren erwogen zu haben. Mindestens zwei Mal, 2017 und 2018, sei Stephan E. demnach zum Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gefahren, mit der Waffe in der Tasche, berichten „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR.

Hinterher sei er der zurückgezogenen Schilderung zufolge froh gewesen, die Tat nicht ausgeführt zu haben. Als er Lübcke schließlich doch ermordet habe, sei dies wortlos geschehen.

Keinen Grund für Widerruf des Mord-Geständnis’

Die Ermittler fanden eine Hautschuppe von Stephan E. an der Kleidung des Opfers. Ein möglicher Grund für den Rückzug des Geständnisses von E. könnte eine Strategie sein, die der Beschuldigte nun mit seinem neuen Anwalt, Frank Hannig, besprochen hat.

Gründe für den Widerruf der Aussage seines Mandanten nannte der Anwalt auf Nachfrage nicht. Rechtsanwalt Hannig ist kein Unbekannter: Laut einem Bericht des Recherchezentrums Correctiv war Hannig 2015 einer der Gründer des islamfeindlichen Pegida-Bündnisses in Dresden. Zudem trat Hannig bei den Kommunalwahlen im Mai in Sachsen auf einer parteiunabhängigen Liste an, auf der auch extrem Rechte antraten.

Zwei weitere Haftbefehle – aber keinen Verdacht auf terroristische Vereinigung

Neben Stephan E. hat die Bundesanwaltschaft im Mordfall Lübcke mittlerweile Haftbefehle gegen Elmar J. sowie Markus H. erwirkt. Der 43 Jahre alte Rechtsextremist Markus H. soll einer der beiden Helfer von Stephan E. sein. Die Ankläger werfen ihm vor, E. den Kontakt zu einem Waffenhändler – dem 64 Jahre alten Elmar J. – aus Nordrhein-Westfalen vermittelt zu haben.

Der Generalbundesanwalt (GBA) geht weiterhin davon aus, dass die Tat an Lübcke rechtsextrem motiviert war. Deshalb hat er die Ermittlungen übernommen. Allerdings: Trotz drei Beschuldigter sieht der GBA bisher offenbar keine dringenden Hinweise auf die Gründung einer terroristischen Vereinigung – er ermittelt wegen Mordes. Auf Nachfrage unserer Redaktion wollte sich die Bundesanwaltschaft dazu nicht äußern.

Wie stark war E. in die rechtsextreme Szene eingebunden?

Zentral für die Ermittlungen bleibt die Frage, wie stark der mutmaßliche Mörder in den vergangenen Jahren in die rechtsextreme Szene eingebunden war. Anfangs hieß es vonseiten der Sicherheitsbehörden, dass sich E. nach 2009 aus der Szene zurückgezogen habe, sei weder Verfassungsschutz noch Polizei seitdem aufgefallen.

Berichte über eine mögliche Teilnahme von Stephan E. an einem Treffen im März in Sachsen, auf dem auch Mitglieder der gewaltbereiten Gruppe „Combat 18“ gewesen sind, haben die Behörden bisher nicht bestätigt. Nach Informationen unserer Redaktion prüfen die Sicherheitsbehörden den Fall.

Beschuldigter Mitglied in völkischer „Artgemeinschaft“?

Nun ist eine weitere Gruppierung in den Fokus geraten, in der Stephan E. laut Berichten von „Welt“ und „taz“ noch bis 2011 Mitglied gewesen sein soll: die völkisch-nationalistische „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz soll demnach von der Mitgliedschaft gewusst haben. Möglicherweise kam die Information jetzt heraus, weil der Geheimdienst noch einmal alle wichtigen Akten zu Stephan E. nach Hinweisen durchforstet. Seit den 1980er-Jahren war E. als Neonazi in der Szene aktiv, wurde mehrfach auch wegen schwerer Gewalttaten auffällig und in einem Fall zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Eine Spezialeinheit der Polizei brachte Stephan E. (rotes T-Shirt) am Dienstag zum Bundesgerichtshof.
Eine Spezialeinheit der Polizei brachte Stephan E. (rotes T-Shirt) am Dienstag zum Bundesgerichtshof. © Reuters | REUTERS TV

Die „Artgemeinschaft“ ist noch aus einem anderen Ermittlungsverfahren bekannt: den NSU-Morden. Polizisten entdeckten in der Wohnung der NSU-Zelle um die verurteilte Beate Zschäpe einen handschriftlichen Zettel mit zehn Adressen rechtsextremer Organisationen, darunter die „Artgemeinschaft“. Die Ermittler vermuteten damals, dass diese Liste mögliche Empfänger von Spenden des NSU waren, die die Gruppe durch Banküberfälle erbeutet hatte.

Bei einem NPD-Abgeordneten in Schwerin fanden Polizisten 2012 eine Kopie eines Briefes, Adressat: der NSU. Die Räume der „Artgemeinschaft“ durchsuchten die Polizisten damals jedoch nicht. Nach Angaben der Bundesanwälte fehlte ein Tatverdacht gegen eine konkrete Person, um eine Durchsuchung zu rechtfertigen.

Der Verfassungsschutz soll Erkenntnisse über weit über die Region reichende rechtsextremistische Netzwerke im nordhessischen Umfeld des Mordes haben. „Insbesondere im neonazistischen Spektrum sind personelle Vernetzungen mit überregionalen und auch internationalen rechtsextremistischen Strukturen festzustellen“, sagte ein Sprecher des hessischen Landesamtes der Düsseldorfer „Rheinischen Post“ (Montag).

In Nordhessen gebe es Aktivitäten aus der gesamten Bandbreite des rechtsextremistischen Spektrums. Dies reiche von einzeln agierenden Rechtsextremisten über lose strukturierte neonazistische Kameradschaften und völkische Gruppen bis hin zu fest strukturierten Parteien und Gruppierungen der sogenannten „Neuen Rechten“.

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    . (dpa/rtr/epd/moi)