Berlin. Andrea Nahles will nach der Pleite bei der Europawahl über den SPD-Fraktionsvorsitz neu abstimmen lassen. Martin Schulz kritisiert das.

Es wirkt wie ein Versuch, mit einem Befreiungsschlag eine völlig verzweifelte Partei wieder unter Kontrolle zu bekommen. Am Montagabend fuhr Andrea Nahles, die Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, in das ZDF-Hauptstadtstudio. Es liegt am Prachtboulevard „Unter den Linden“, nicht weit vom Brandenburger Tor. Nahles hatte – nach den stundenlangen Krisensitzungen im Parteivorstand im Willy-Brandt-Haus – zuvor noch einmal die engere Führung zusammengetrommelt, um ihren nächsten Schritt abzustimmen.

Die Runde tagte streng vertraulich in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung. Die Ministerpräsidenten Malu Dreyer, Stephan Weil, Manuela Schwesig waren dabei, Vizekanzler Olaf Scholz, Generalsekretär Lars Klingbeil und andere. Anschließend schaute Nahles noch kurz im Kanzleramt bei einem Koalitionsgespräch vorbei, dann folgte die Aufzeichnung der Sendung „Was nun?“.

Nahles will in wenigen Tagen über Fraktionsvorsitz abstimmen lassen

Dort machte sie publik, in der nächsten Woche am Dienstag über ihren Vorsitz der SPD-Fraktion abstimmen zu lassen – und nicht erst im September. „Ich habe das Gemurmel gehört, die ganzen Gerüchte, die da gelaufen sind. Ist doch ne gute Gelegenheit, das alle offen auszutragen und Klarheit zu schaffen“, sagte Nahles. Es ist der Versuch einer angezählten Chefin, nach dem Erdbeben der Europawahl und in Bremen ihre erodierende Autorität zumindest wieder zu festigen.

Bei der Abstimmung könnten alle, die mit der SPD einen anderen Weg als sie gehen wollten und „in vielfältiger Form unzufrieden sind“, offen zeigen, was sie von ihr halten. Nahles spielt darauf an, dass einige Genossen seit Monaten ihre Chancen sondieren, sie von der Fraktionsspitze zu verdrängen.

Andrea Nahles stellte Martin Schulz zur Rede

Dann wäre sie über kurz oder lang auch die Parteiführung los. So stellte Nahles vor einigen Tagen Martin Schulz zur Rede. Der Ex-Kanzlerkandidat will sich nicht damit abfinden, als Hinterbänkler tatenlos zuzuschauen, wie die SPD immer weiter abrutscht. Aber springt Schulz nächste Woche wirklich? Spekulationen, er habe 80 der 152 Bundestagsabgeordneten hinter sich, halten Kenner der Verhältnisse für völlig übertrieben.

Martin Schulz kritisierte nun jedenfalls die Ankündigung von Fraktionschefin, sich vorzeitig einer Neuwahl zu stellen. „Diese Wahl ist für September angesetzt“, sagte Schulz der Wochenzeitung „Die Zeit“. „Der Fraktion sollte die Zeit gegeben werden, die letzten Entwicklungen zu analysieren.“ Die Frage, ob er selbst gegen Nahles antrete, „stellt sich zurzeit nicht“, sagte Schulz weiter. „Wir sollten Ruhe bewahren und die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen“.

Seit Tagen gibt es Spekulationen, nach denen Schulz selbst den Fraktionsvorsitz anstrebt. Hierzu sagte der ehemalige Kanzlerkandidat: „Es ist ein Kernproblem der SPD, dass viel zu viele ständig dabei sind, Intrigen zu schmieden.“

Seinen Hut in den Ring werfen könnte auch Achim Post, der derzeit einer der Stellvertreter von Nahles ist. Der 60 Jahre alte Europa-Politiker aus dem ostwestfälischen Minden wird als besonnener Fachmann geschätzt. Er gilt im einflussreichen linken Flügel der Fraktion aber als nicht satisfaktionsfähig.

Hoch angesehen ist der Umweltpolitiker Matthias Miersch. Er führt die Parteilinken an und ist auch Chef des größten SPD-Unterbezirks in Hannover. Miersch werde aber nicht in eine Kampfabstimmung gehen, heißt es aus Fraktionskreisen. „Ich weiß nicht, wer antritt“, sagte Nahles, die natürlich darauf setzt, die Vertrauensfrage zu gewinnen. Danach werde es neue Klarheit geben, um sich den eigentlichen Problemen zuzuwenden.

Die Probleme bedrohen die Existenz der SPD

Und die Probleme sind gewaltig, sie bedrohen die Existenz der SPD. Der Zerfall der Volkspartei scheint unaufhaltsam zu sein. „Was mir wirklich Angst macht, ist, dass wir bei den Erstwählern nur noch sechste Kraft sind. Sechste Kraft!“, sagte am Montag Johanna Uekermann, die frühere Juso-Chefin und Vize-Landesvorsitzende in Bayern.

Sieben Prozent der Erstwähler machten ihr Kreuz bei der SPD. Der Satire-Verein Die Partei bekam bei den 18-Jährigen neun Prozent, die Union elf. Die Grünen? 36 Prozent. Noch eine andere ARD-Grafik liefert für die SPD erschütternde Daten. Von den unter 30-Jährigen wählten sie nur neun Prozent, die Grünen holten 29 Prozent. „Think about it“, kommentierte Juso-Chef Kevin Kühnert das Diagramm. Wie will die stolze Sozialdemokratie dauerhaft überleben, wenn die junge Generation sie für eine verstaubte Partei von vorgestern hält?

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    SPD diskutiert, wie das Ausbluten gestoppt werden kann

    Stundenlang diskutierte der Parteivorstand, wie das Ausbluten gestoppt werden kann. Um halb drei zeigte sich Nahles bei einer Pressekonferenz. Sie habe schlecht geschlafen. Alles andere wäre nach 15,8 Prozent (2014: 27,3) und dem Verlust der Pole Position in Bremen ein Wunder gewesen.

    Nahles wird nach ihrer Verantwortung gefragt. „Die Verantwortung, die ich habe, spüre ich, die will ich aber auch ausfüllen.“ Der Ernst der Lage sei allen bewusst. Dass die Grünen die SPD von Platz zwei im Parteien-Ranking verdrängt hätten, sei eine Zäsur. Nahles, die erst seit 13 Monaten an der Parteispitze steht, versucht, die Last des Absturzes historisch auszudehnen auf ihre zahlreichen Amtsvorgänger, Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel und Martin Schulz eingeschlossen. „Die 15 Prozent, die wir jetzt haben, sind auch in den letzten 15 Jahren entstanden.“

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      Und nicht alle Wahlen seien am Sonntag ja schlecht gelaufen, referiert Nahles. Die SPD liege bei den Kommunalwahlen in Cuxhaven, Wiesbaden und Saarbrücken vorne: „Wir sind eine starke Kommunalpartei!“ Das nennt man wohl neue Bescheidenheit.

      Die SPD-Führung ist ratlos

      Aber welche Lehren will die SPD aus dem Absturz ziehen? Nahles’ Ausführungen verraten, dass die Führung ratlos ist. Die Partei wolle ihre „Strategie-Fähigkeit“ wiedererlangen, sich bei Klima und Arbeit klarer positionieren und sich gegenüber der Union in der Koalition stärker profilieren, sagte sie.

      Das hatte sich die SPD schon nach der Bundestagswahl vorgenommen. Im Juni 2018 präsentierte Nahles eine umfangreiche Analyse, in der die Fehler früherer Wahlkämpfe schonungslos benannt worden waren. 20 Monate sind vergangen. Und die Lage wird immer dramatischer. Es gebe nun eine „neue Dringlichkeit“, nennt Nahles das. Was bedeutet das alles für die Regierungsfähigkeit der SPD?

      Wird der SPD-Parteitag zur Halbzeitbilanz der Groko vorgezogen?

      Im Parteivorstand meldeten sich mehrere zu Wort, die den für Dezember angesetzten Parteitag zur Halbzeitbilanz vorziehen wollen. Das wäre für Nahles brandgefährlich. Unter dem Eindruck des aktuellen Wahldesasters würde sie wohl keinen Parteitag mehr zu einer Fortsetzung der Koalition bewegen können – eine Neuwahl ohne stichhaltige Gründe aber könnte der SPD bei den Wählern den endgültigen Knockout versetzen.

      Nahles sagt, das Vorziehen sei im Vorstand „mehrheitlich skeptisch eingestuft“ worden. Sie gehe davon aus, dass diese Forderung sich am Ende nicht durchsetze. Am Nachmittag dann spitzte sich die Lage zu. So verlangte der Abgeordnete Michael Groß aus dem nordrhein-westfälischen Marl in einem Brief eine Sondersitzung der Bundestagsfraktion. „Nach den sehr bedauerlichen und desaströsen Ergebnissen der SPD bei den Wahlen, muss klargestellt werden, ob die SPD-Bundestagsfraktion hinter ihrer Vorsitzenden steht oder nicht. Entweder sie wird breit gestützt oder nicht. Den Spekulationen muss ein Ende gesetzt werden“, schrieb Groß. Da hatte Nahles bereits für sich entschieden, in die Offensive zu gehen.

      Stephan Weil: „Der SPD nutzt das alles nicht“

      Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) distanziert sich von der Entscheidung von Parteichefin Andrea Nahles, vorzeitig über ihren Posten an der Spitze der SPD-Fraktion abstimmen zu lassen. „Das ist eine persönliche Entscheidung, die ich nicht kommentieren muss“, sagte er unserer Redaktion.

      „Die SPD befindet sich in ausgesprochen schwierigen Zeiten. Meine Haltung ist immer gewesen, dass Führung gerade dann Unterstützung braucht.“ Aber jetzt werde es in der Bundestagsfraktion eine Entscheidung geben. Zu Spekulationen, der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz könnte gegen Nahles antreten, sagte Weil: „Es werden derzeit viele Namen genannt. Der SPD nutzt das alles nicht.“

      Die stellvertretende SPD-Chefin Manuela Schwesig verteidigte indes den Versuch von Nahles, sich neuen Rückhalt zu sichern und ihre Gegner in der Fraktion in die Defensive zu drängen. „Mit der vorgezogenen Wahl zum Fraktionsvorsitz geht Andrea Nahles in die Offensive. Damit wird Klarheit geschaffen anstatt ständig über Köpfe zu spekulieren“, sagte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern unserer Redaktion. Die SPD sollte sich auf die Arbeit in der Regierung konzentrieren: „Die große Koalition hat jetzt große Aufgaben zu bewältigen, wie die Umsetzung der Grundrente oder des Klimaschutzgesetzes.“

      Ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung der großen Koalition vermied Nahles im ZDF übrigens. Auch darüber werde der Parteivorstand in seiner Klausur am Montag reden. In der SPD könnten Dämme brechen. Juso-Chef Kühnert sagte „Spiegel Online“, der Ball liege bei Nahles, Scholz & Co.

      Diese hätten den Einstieg in die Regierung „mit Pro­gnosen begründet, die sich offenkundig als nicht wahr herausgestellt haben“. Die Auflösungserscheinungen verheißen der ältesten deutschen Partei nichts Gutes für die nächsten Wahlen in Brandenburg und Sachsen, wo die AfD bei der Europawahl bereits zur stärksten Kraft aufstieg. (fmg)