Paris/Berlin. Der Straßburger Attentäter gehört zu den Einwandererkindern, deren Integration in die Gesellschaft gescheitert ist. Eine Spurensuche.

Wann das Leben von Chérif Chekatt auf die abschüssige Bahn geriet, ist schwer zu sagen. Wann der 29-Jährige den Entschluss fasste, am Dienstagabend einen Terroranschlag in der Nähe des weltberühmten Straßburger Weihnachtsmarkts zu verüben, ebenfalls. Vier Menschen wurden dabei getötet.

Fest steht, dass die kriminelle Karriere des Franzosen mit nordafrikanischen Wurzeln sehr früh begann. Mit zehn Jahren beging er seine erste Straftat, mit 16 brach er die Schule ab. Insgesamt geriet er 67 Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Wegen Diebstahls, Einbruchs oder Raubs wurde er in Frankreich, Deutschland und in der Schweiz 27 Mal verurteilt. Am Donnerstagabend erschossen Polizisten den Attentäter bei einer Kontrolle in dem Viertel, wo er zuletzt gesehen worden war.

Chekatts Familie galt Sozialarbeitern bereits frühzeitig als schwieriger Fall. Der Vater, der 1947 in Marokko geborene Abdelkarim Chekatt, war für seine Ausraster bekannt. Ein Strafverfahren wegen Gewalt in der Ehe wurde 2012 eingestellt.

Die Mutter, die bis heute nur ein holpriges Französisch spricht, weigerte sich, Beweise zu liefern.

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wuchs mit fünf Geschwistern und sechs Halbgeschwistern auf, die aus unterschiedlichen Beziehungen seines Vaters hervorgingen.

Aufgewachsen in sozialen Brennpunkten

Vier von Chérifs Brüdern sind mehrfache Wiederholungsstraftäter. Zwei der Brüder sowie der Vater und die Mutter wurden seit Dienstagnacht in Polizeigewahrsam verhört. Nach einem dritten Bruder, einem in Algerien lebenden Islamisten, wird gefahndet. Seine Lehrer brachte der gewalttätige Chérif fast zur Verzweiflung. Alle sechs Kinder der Familie Chekatt seien „problematisch“ gewesen, hieß es an seiner Schule. Chérif soll zu plötzlichen Gewaltausbrüchen geneigt haben.

Erleichterung nach dem Tod von Cherif C.

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    Neudorf liegt südlich der malerischen Straßburger Altstadt. Bereits an der Architektur mit den verwahrlosten Wohntürmen lässt sich ablesen, dass sich hier ein sozialer Brennpunkt befindet. Hier leben vor allem Menschen, die von Einwanderern aus Nordafrika abstammen. Viele Orte sehen so aus wie Neudorf, vor allem die Vorstädte (Banlieues) der Metropolen. Zum Beispiel Saint-Denis bei Paris. Aber auch in Marseille oder Toulouse gibt es Viertel mit einem hohen Anteil von Migranten aus muslimischen Ländern.

    2008 musste Chérif im Alter von 19 Jahren zum ersten Mal in Haft. An die Zellenwand heftete er ein Poster von Osama bin Laden, dem Chef des Terrornetzwerks Al-Kaida. Bei seinem zweiten Gefängnisaufenthalt 2010 versuchte er, Mithäftlinge zum Islam zu bekehren. Er habe immer wieder islamistische Reden gehalten, hielten Vollzugsbeamte fest. Seine Informationsquelle sei das Internet gewesen.

    Er habe einer kriminellen Bande angehört, die „mit der Republik gebrochen“ habe, stand in seiner Akte. Er habe im Salafismus, einer radikalen Auslegung des Islams, eine Parallelwelt geschaffen. Ab 2015 wurde Chérif Chekatt in einer Kartei als potenzieller „Gefährder“ geführt und turnusmäßig von den Diensten überwacht. Dabei wurden jedoch keine Anzeichen auf die Planung eines terroristischen Anschlags entdeckt.

    Muslimisch durchwirkte Parallelgesellschaften

    Chekatts kriminelle Laufbahn folgt einem Muster, welches auf viele Mitglieder einer in sozialen Brennpunkten aufgewachsenen Einwandergeneration zutrifft. Sie lebten in muslimisch durchwirkten Parallelgesellschaften. Die Integration in die französische Gesellschaft scheiterte auf dramatische Weise.

    2005 zettelten Jugendliche einen regelrechten Aufstand in 300 Vorstadt-Gettos an. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand. Chekatt war 16, als sich seine Altersgenossen auch in Neudorf Straßenschlachten mit der Polizei lieferten und Mülleimer sowie Autos in Brand steckten.

    Mit der Attacke auf die Pariser Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ begann im Januar 2015 die bis heute anhaltende Serie islamistischer Terrorangriffe. Beinahe alle Drahtzieher waren vorbestraft und wuchsen in Vorstädten auf. Die Soziologen bezeichneten sie als verlorene Generation von Einwandererkindern. „Franzosen, die Franzosen töten“, stellte Ex-Präsident François Hollande nach den Pariser Anschlägen vom 13. November fassungslos fest.

    Als Konsequenz aus dem

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    werden in der deutschen Politik die Rufe nach mehr europäischer Zusammenarbeit im Anti-Terror-Kampf lauter. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte im Gespräch mit unserer Redaktion einen besseren Informationsfluss und bessere Informationssysteme. Besonderswichtig sei, den Europäischen Kriminalitätsnachweis (EPRIS) nach dem Vorbild des deutschen Kriminalitätsnachweises „endlich in den Vollbetrieb zu nehmen“.