München. Beim Asylstreit der Union fällt ein Kompromiss schwer, weil beide Seiten sich nicht länger verstellen wollen. Es ist eine Entfremdung.

Sie wollte Eindruck machen. Mächtig viel. 14 Zusagen! So viele EU-Staaten sollten sich laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bereit erklärt haben, mit Deutschland über die Rücknahme von Flüchtlingen zu verhandeln.

Dann meldeten sich die Tschechen –

Auch interessant

. Und dann Ungarn. Danach Polen. Das ist nicht der Dominoeffekt, den sich die

Auch interessant

erhofft hatte. Ihr Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beschleicht langsam der Zweifel, ob die jüngsten EU-Ratsbeschlüsse „alle Realität werden“. Dieser Zweifel betrifft in Merkel. Er führt geradewegs zum Kern der Regierungskrise in Berlin.

Wenn die EU-Beschlüsse nicht „wirkungsgleich“ mit der

sind, woanders in der EU registrierte Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen, will Innenminister

Auch interessant

(CSU) einseitig handeln, im Alleingang. Auf eigene Faust und im Dissens mit der Kanzlerin will er dann Asylbewerber, die bereits in anderen EU-Ländern registriert sind, an der deutschen Grenze zurückweisen.

SPD und CSU bewerten EU-Gipfel-Ergebnis positiv

weitere Videos

    Der Asylstreit ist noch nicht gelöst

    Wie Dobrindt interpretiert er die jüngsten Beschlüsse der EU als Ermächtigung für einen nationalen Alleingang. Sofort widersprach das Merkel-Lager. An der Reaktion zu Dobrindts Äußerungen in der „Bild am Sonntag“ wird deutlich, dass CDU und CSU über den Samstag ihren Streit nicht wirklich gelöst haben.

    Der Mann, um den sich alles dreht, wird an diesem

    Auch interessant

    in seinem Eckbüro in der CSU-Zentrale in der Mies-van-der Rohe im Münchner Norden sitzen. Es ist ein relativ kleines Büro, zweckmäßig und nüchtern eingerichtet, vor allem erkennbar wenig benutzt. Es ist das Büro des Vorsitzenden. Seehofer zieht sich häufig hierhin zurück, um ungestört zu telefonieren, eine Tür führt zum kleinen Saal nebenan, an dem er sich gewöhnlich mit seinen Mitarbeitern berät. Es ist an diesem Sonntag mehr denn je der War-Room der CSU.

    Bald werden die ersten Limousinen vorfahren, aus denen ein bayerischer Spitzenpolitiker nach dem anderen aussteigt. Sie müssen entscheiden, „ob es Krieg gibt“, wie es in der CSU-Zentrale heißt. Die meisten wissen nicht mehr, als die viele Journalisten und Kameraleute, die an diesem sonnigen Sonntag das Haus in München belagern. Was will Seehofer?

    Der CSU-Chef will sich zunächst einmal nicht nachsagen lassen, er habe es sich (zu) leicht gemacht. Am Samstag fährt der Innenminister nach Berlin und berät sich dort mit seinen Beamten, am Abend sitzt er gut zwei Stunden lang mit Merkel zusammen, am Sonntag ist er zurück im Freistaat, am Montag wird er wieder in Berlin erwartet. Seehofer im Pendlermodus.

    Nur gut 100 Tage nach ihrem Start kann die große Koalition in Berlin am Streit über die Migrationspolitik zerbrechen, vielleicht sogar die seit über 70 Jahre währende Fraktionsgemeinschaft der Unionsparteien. Es ist unklar, was Merkel und Seehofer am Samstagabend im Kanzleramt genau besprochen haben und damit auch, ob er der Kanzlerin seine Absichten verraten hat, ob er sich festgelegt hat, ob er einen Alleingang machen wird - und in der Konsequenz, ob Merkel ihm das durchgehen lässt oder ihn stoppt oder gar entlässt.

    Merkel hat die Richtlinienkompetenz

    Sie ist die Regierungschefin, und sie, nur sie, hat die „Richtlinienkompetenz“. Die CDU-Führung tagt denn auch am Abend in Berlin ganz bewusst nach der CSU, um auf die Beschlüsse aus München reagieren zu können.

    Die Ironie ist, dass die Koalition an einer Frage scheitern könnte, bei der gerade jetzt so viel in Bewegung gerät: Es gibt erstens eine neue striktere EU-Linie, zweitens ein achtseitiges Positionspapier der Kanzlerin, drittens einen ominösen

    Auch interessant

    des Innenministers, 63 Punkte, die bislang unter Verschluss gehalten werden, und viertens laut „Spiegel“ ein Fünf-Punkte-Papier der SPD.

    Auch interessant

    , bislang Zuschauer des Unionsstreits, drängen selbst auf die Bühne. Das Thema Migration wächst sich zu einer Belastungsprobe für die Koalition und zum Härtetest für ein deutsches Markenzeichen aus: Stabilität.

    Der Faktor Zeit ist zumindest für die CSU entscheidend. Im Oktober stehen im Freistaat Wahlen an, in Umfragen ist die rechtspopulistische AfD schon heuer die zweistärkste Kraft in Bayern, die absolute Mehrheit von Ministerpräsident Markus Söder ist kaum noch zu verteidigen. Die rasanten Zuwächse der AfD kann sich die CSU nur mit der latenten Unzufriedenheit über der Zuwanderung erklären.

    Die Zurückweisung von Flüchtlingen wäre eine dramatische Geste, die als Asylwende, als ,Abkehr von Merkels „Willkommenskultur“ verstanden werden soll. Es geht um Symbolik, um eine Botschaft: Wir haben verstanden.

    Seehofer kalkuliert ein, dass nach Deutschland sofort auch Anrainerstaaten anfangen würden, Flüchtlinge zurückzuweisen – Österreich hat genau das schon angekündigt. Einer nach dem anderen würde umfallen, von der Alpenrepublik über die Balkanstaaten bis Griechenland. Dieser Dominoeffekt wäre gewollt.

    Neben der Zeit gibt es noch einen weiteren sensiblen Faktor: die Glaubwürdigkeit. Die CSU hat seit der demonstrativen Öffnung der Grenzen rebelliert, Seehofer verstieg sich zwischenzeitlich sogar dazu, die Regierung in Berlin zu verklagen. Diese und andere Drohungen hat er nie wahr gemacht. Immer hat die CSU den geordneten Rückzug angetreten; teilweise an der Grenze der Lächerlichkeit.

    „Das geht nicht mit Merkel“

    So wurde im Februar 2017 die Inszenierung von Eintracht bei einer gemeinsamen Klausur der Unionsparteien verlacht. Längst sind beide Seiten diese Inszenierungen leid. „Um mit uns auf eine Wellenlänge zu sein, müsste die CDU eigentlich ein Rechtsruck machen“, sagt ein CSU-Funktionär, „das geht nicht mit Merkel“.

    Wenn Seehofer kleinbei gibt, könnte es Glaubwürdigkeit kosten, ihm persönlich, seiner Partei, mittelbar Ministerpräsident und Spitzenkandidat Söder. Die Fallhöhe ist riesig. Und diesmal gibt es anders als in den vergangenen Jahren mit Innenminister Thomas de Maizière keinen Sündenbock. Diesmal sitzt ein CSU-Mann, eben Seehofer, am Schaltpult der inneren Sicherheit. Es gibt keine Ausreden, dafür aber eine Sehnsucht, sich länger nicht zu verstellen. Die K-Fragen der CSU: Klartext, Klarheit, Konfrontation.

    Zurückschauen will Seehofer nicht mehr. „Die Windschutzscheibe ist größer als der Rückspiegel“, sagte er. neulich Der CSU-Chef will der Bevölkerung sagen können, „wir haben das im Griff“. Auch er ist den Dauerstreit mit Merkel leid. Neulich, im kleinen Kreis mit einer Handvoll Journalisten, als es eigentlich um die Baupolitik ging, ließ er sich sogar auf ein heikles Feld ein: Abschied. Alles ist möglich, auch, dass Seehofer geht. Er würde „die Feilbeil-Methode“ (Seehofer) wählen, will sagen: Den Rücktritt verkünden – und gehen. Keine Drohungen mehr. Pure Aktion.