Berlin. Der Skandal um Manipulationen beim Flüchtlingsamt Bamf zieht größere Kreise. Die Rufe nach einem Untersuchungsausschuss werden lauter.

Am Pfingstmontag ist Horst Seehofer in Regensburg unterwegs. Wochenenden und Feiertage gehören der Familie. Beim Bundesinnenminister kann man getrost die CSU-Familie dazu zählen. Daheim in Bayern wird der CSU-Chef auf seine unvermittelt größte Herausforderung in Berlin angesprochen: auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und den Asylskandal in der Außenstelle in Bremen.

Seit Mitte April bekannt wurde, dass bis zu 2000 Asylanträge rechtswidrig „durchgewinkt“ wurden, zieht der Skandal immer weitere Kreise. Seehofer bräuchte eine Erleuchtung, um die Krise schnell zu lösen. Ende April beauftragte er den Bundesrechnungshof mit der Prüfung der Behörde. Doch die Zeit läuft Ministern wie Prüfern davon, weil regelmäßig neue und belastende Details auftauchen. Es erhärtet sich der Verdacht, dass die Behörde von den Unregelmäßigkeiten in Bremen wusste und die Aufklärung aus Angst um die Schlagzeilen lustlos und schleppend vorantrieb.

Bamf-Leiterin möglicherweise nicht ausreichend informiert

In Bremen sollten sie, untypisch in deutschen Amtsstuben, alle Fünfe gerade sein lassen. Die Unregelmäßigkeiten in der Außenstelle sollten überprüft werden, aber bitte nicht „alles“ oder „bis ins Detail“. Vor allem sollte es „geräuschlos“ geschehen. Erst mal: „vorsichtig nachbohren“. So steht es in einer E-Mail des zuständigen Abteilungsleiters des Bamf vom Februar 2017, deren Wichtigkeit von Amtschefin Jutta Cordt als „hoch“ eingeschätzt wurde.

Steht unter Druck: Jutta Cordt, Präsidentin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf).
Steht unter Druck: Jutta Cordt, Präsidentin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). © dpa | Bernd von Jutrczenka

Die Mitteilung wirft ein Licht auf das Krisenmanagement und dürfte Cordt in Bedrängnis bringen. „Es verdichtet sich immer mehr der Eindruck, dass die aktuelle Leiterin des Bundesamtes entweder nicht ausreichend informiert wurde oder aber Informationen ignoriert hat“, sagte die flüchtlingspolitische Fraktionssprecherin der Grünen, Luise Amtsberg, dieser Zeitung. „Sollte sich dieses bewahrheiten, ist die Leiterin, Frau Cordt, nicht mehr zu halten.“

Untersuchungsausschuss hängt von den Grünen ab

Im Bundestag rufen FDP und AfD nach einem Untersuchungsausschuss. Noch zögern die Grünen, sie scheuen den Aufwand. Sie fordern eine rasche Sondersitzung des Innenausschusses. Die Lage sei „ernst“, die Lösungssuche „dringlich“. Es müssten „Reformen unverzüglich angegangen“ werden. Minister Seehofer müsse kooperieren, „uns Zugang zu allen Informationen geben, sonst wird ein Untersuchungsausschuss unausweichlich.“

Darum geht es beim Verdacht auf Korruption im Bundesamt für Migration

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    Der Geduldsfaden der Grünen – zum Reißen gespannt. Für einen Untersuchungsausschuss müsste ein Viertel der Abgeordneten stimmen, neben AfD und FDP bräuchte es eine dritte Fraktion. Die Grünen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch deutete an, dass hinter den Kulissen einiges in Bewegung geraten ist: „Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen wird mit Sicherheit nicht über Medien erörtert“, sagte er der „Welt“ . Die SPD forderte Seehofer zum Durchgreifen auf, will aber keinen Untersuchungsausschuss. Das sei der falsche Weg, so ihr Innenpolitiker Burkhard Lischka.

    18.000 positive Bescheide werden untersucht

    Allein in Bremen geht es um bis zu 2000 fragwürdige positive Asylbescheide, die nun nachträglich überprüft werden müssen. Der Argwohn ist inzwischen so groß, dass insgesamt 18.000 positive Bescheide untersucht werden. Wobei die Hansestadt keine Ausnahme sein muss. In mehr als zehn Außenstellen wurden Kontrolleure auf den Plan gerufen, überall, wo es deutliche Abweichungen „nach oben oder unten“ gab.

    Bundesinnenminister Horst Seehofer.
    Bundesinnenminister Horst Seehofer. © Getty Images | Sean Gallup

    Das früheste belastende Momentum in Bremen ist ein anonymer Hinweis im Januar 2016 bei einem Ombudsmann des Bamf, über den Cordt vor wenigen Wochen zum ersten Mal den Innenausschuss im Bundestag informiert hat. Im Laufe der Jahre 2016 und 2017 folgten weitere Verdachtshinweise aus der Bremer Bamf-Stelle heraus, aber auch von außerhalb, darunter Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 27. Juli 2016 (und erneut im März 2017) und ein Brief vom niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius vom 21. September desselben Jahres an Cordts damaligen Amtsvorgänger Frank-Jürgen Weise.

    Seehofer will erst am 19. April vom Vorgang erfahren haben

    Die Innenrevision in Nürnberg wurde aktiv, später auch Strafanzeige erstattet und die Leiterin der Bremer Behörde abgesetzt. Auch die Revision im Innenministerium wurde eingeweiht. Aber Seehofer beharrt auf der Darstellung, wonach er erst am 19. April 2018 vom Vorgang erfuhr, und zwar durch eine „polizeiliche Meldung der Zentralen Antikorruptionsstelle beim Senator für Inneres Bremen über die am 18. und 19. April vollstreckten Durchsuchungen“, so das Innenministerium.

    Im Klartext: Seehofer wurde nahezu zeitgleich mit der Öffentlichkeit informiert. Zu spät. Dass die zwischenzeitliche Bremer Bamf-Chefin Josefa Schmid mehrfach vergeblich versucht hatte, ihn zu sprechen, zu alarmieren, zu sensibilisieren, ist inzwischen auch ein Politikum.

    Krisenmanagement bleibt eher defensiv

    Schon Schmid beschlich das fatale Gefühl, dass die Zentrale in Nürnberg die Aufklärung nicht mit Hochdruck betrieb. Tatsächlich waren Krisenmanagement und Öffentlichkeitspolitik eher defensiv. Typisch war da die Antwort auf eine Anfrage unserer Zeitung vom 20. April, einen Tag nach den Razzien der Staatsanwaltschaft und als die Vorwürfe gegen eine langjährige Leiterin der Bremer Bamf-Stelle, drei Rechtsanwälte und einen Dolmetscher publik geworden waren.

    „Unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls wurde durch das Bundesamt Strafanzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft gestellt“, teilte das Bamf mit. „Das Bundesamt arbeitet eng mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Zugleich wurde veranlasst, dass Regel-/Widerrufsprüfungen durchgeführt werden. Ich bitte Sie um Verständnis, dass sich das Bundesamt aufgrund der noch laufenden Ermittlungen nicht zu weiteren Details äußern kann.“ Was an dieser Mail auffällt: Das Bamf nennt keine Zahlen oder Daten – es bestätigt nur, was zu dem Zeitpunkt bekannt und nicht zu leugnen ist.

    Auf den Imageschaden folgt der Vertrauensverlust

    Das Vertrauen der Deutschen in die Arbeit des Bundesamts ist laut einer Umfrage denn auch erheblich beschädigt. Knapp 80 Prozent gaben in der Umfrage des Instituts Civey im Auftrag der „Welt“ an, sie hätten „eher geringes“ oder „sehr geringes“ Vertrauen in die Vergabepraxis von Asylbescheiden. Bei rund neun Prozent ist das Vertrauen „sehr groß“ oder „eher groß“, knapp elf Prozent sind derweil unentschieden.

    Der Imageschaden treibt inzwischen viele Politiker in Berlin, aber auch in den Bundesländern um. So sagte der SPD-Innenminister Pistorius der „Rheinischen Post“: „Gerade bei der wichtigsten Bundesbehörde in den Fragen um Flüchtlinge und Asyl müssen die Verantwortlichen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger dem Staat weiterhin vertrauen können.“ Ein ordentliches Asylverfahren sei ein wichtiger Faktor der inneren Sicherheit, mahnte Pistorius. Als Konsequenz aus den Vorgängen müssten „alle Voraussetzungen getroffen werden, damit so etwas nicht mehr möglich ist“.