Berlin. Etwa 80.000 Menschen mit Behinderung dürfen nicht an der Bundestagswahl teilnehmen. Kritiker meinen, das sei nicht mehr zeitgemäß.

Pascal aus Dortmund ist sprachbehindert und hat Lernschwierigkeiten, ist aber politisch sehr interessiert. Pascal erkennt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Sigmar Gabriel (SPD) auf Fotos. Er kennt CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP und kann sie auseinanderhalten.

Doch der junge Mann Anfang 20 gehört zu jenen Menschen mit Behinderung, die in allen Angelegenheiten betreut werden. Pascal durfte im Mai an der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen teilnehmen, an der Bundestagswahl am 24. September darf er das nicht.

Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“

Zur Erinnerung: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Das haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes – rund vier Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft – wohl mit Bedacht gleich in Artikel drei geschrieben. Und sie machten klar, dass in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung das Wahlrecht ein „politisches Grundrecht“ ist.

Im Bundeswahlgesetz von 1956 wird dieses Grundrecht eingeschränkt. Nach Paragraf 13 ist vom aktiven und passiven Wahlrecht unter anderem derjenige ausgeschlossen, „für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer ... bestellt ist“. Dazu kommen Menschen, die im Zustand der Strafunfähigkeit eine Straftat begangen haben und in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind.

Bei einigen Landtagswahlen gibt es andere Regeln

Von der Bundestagswahl 2013 waren rund 84.550 Personen aus diesen Gründen ausgeschlossen. 96,1 Prozent von ihnen sind „dauerhaft Vollbetreute“, 3,9 Prozent „schuldunfähige Straftäter“. Das sind im Verhältnis zu den fast 62 Millionen Wahlberechtigten für die kommende Bundestagswahl zwar wenige. Aber es geht ums demokratische Prinzip.

Das sind die Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl 2017

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    Die SPD-Fraktion spricht in einem Positionspapier vom Jahresanfang von einer Diskriminierung. Sie will Bundes- und Europawahlgesetz entsprechend ändern, damit Menschen, die unter umfassender Betreuung stehen, nicht automatisch das Wahlrecht entzogen wird.

    Bei Landtagswahlen gibt es solche Regelungen bereits. So können nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in Schleswig-Holstein Menschen unter dauerhafter Vollbetreuung zur Wahl gehen. Berlin ist gerade dabei, dies ebenfalls möglich zu machen. Und in Europa kennt etwa die Hälfte der Länder keinen solchen Wahlrechtsausschluss.

    Gegenargument: Wahlbetrug werde ermöglicht

    Interessant ist, wie unterschiedlich die Quoten von Menschen unter dauerhafter Vollbetreuung von Bundesland zu Bundesland sind. So ist nach einer Studie des Bundessozialministeriums von 2016 die Quote pro 100.000 Einwohner in Bayern (203,8 pro 100.000) 26 Mal so hoch wie in Bremen (7,8). Das darf als ein Hinweis gewertet werden, dass ein einheitlicher Begriff der Behinderung nicht existiert. Es wird mit unterschiedlichem Maß gemessen.

    Die Plakate der Parteien im Bundestag

    Ohne Plakate kein Wahlkampf. Die im Bundestag vertretenen Parteien haben ihre Großplakate vorgestellt. Überraschendes gibt es kaum. CDU-Generalsekretär Peter Tauber stellt natürlich auch die Kanzlerin Angela Merkel in den Vordergrund.
    Ohne Plakate kein Wahlkampf. Die im Bundestag vertretenen Parteien haben ihre Großplakate vorgestellt. Überraschendes gibt es kaum. CDU-Generalsekretär Peter Tauber stellt natürlich auch die Kanzlerin Angela Merkel in den Vordergrund. © imago/Metodi Popow | M. Popow
    „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ lautet das Leitmotiv der CDU-Kampagne.
    „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ lautet das Leitmotiv der CDU-Kampagne. © imago/Metodi Popow | M. Popow
    Das Versprechen von „Sicherheit und Ordnung“ spricht die Kern-Klientel der Union an.
    Das Versprechen von „Sicherheit und Ordnung“ spricht die Kern-Klientel der Union an. © imago/Metodi Popow | M. Popow
    Auf allen Plakaten der CDU ist die Farbkombination schwarz-rot-gold zu finden.
    Auf allen Plakaten der CDU ist die Farbkombination schwarz-rot-gold zu finden. © imago/Metodi Popow | M. Popow
    Erstmals präsentiert die CDU auch ein eigenes Motiv zu Europa.
    Erstmals präsentiert die CDU auch ein eigenes Motiv zu Europa. © imago/Metodi Popow | M. Popow
    SPD-Generalsekretär Hubertus Heil setzt ebenfalls auf Großplakate – etwa zum Thema Start-up-Gründer.
    SPD-Generalsekretär Hubertus Heil setzt ebenfalls auf Großplakate – etwa zum Thema Start-up-Gründer. © dpa | Kay Nietfeld
    Schreien dürfen auf den SPD-Plakaten nur die Kinder.
    Schreien dürfen auf den SPD-Plakaten nur die Kinder. © dpa | Kay Nietfeld
    Und natürlich darf bei der SPD der Kanzlerkandidat Martin Schulz nicht fehlen.
    Und natürlich darf bei der SPD der Kanzlerkandidat Martin Schulz nicht fehlen. © dpa | Kay Nietfeld
    Diese Optik, die SPD-Generalsekretär Hubertus Heil zeigte, soll wohl ausdrücken: Deutschland im Zeichen von Martin Schulz.
    Diese Optik, die SPD-Generalsekretär Hubertus Heil zeigte, soll wohl ausdrücken: Deutschland im Zeichen von Martin Schulz. © dpa | Kay Nietfeld
    Die Grünen stellen wieder ihre Kernkompetenz Umwelt- und Klimapolitik ins Zentrum der Wahlkampagne.
    Die Grünen stellen wieder ihre Kernkompetenz Umwelt- und Klimapolitik ins Zentrum der Wahlkampagne. © dpa | Soeren Stache
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    Die Zukunft wollen und machen – auch dies ein grünes Motto zur Bundestagswahl. © dpa | Soeren Stache
    Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt enthüllte ein Plakat ihres Co-Frontmannes Cem Özdemir...
    Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt enthüllte ein Plakat ihres Co-Frontmannes Cem Özdemir... © dpa | Soeren Stache
    ... und Cem Özdemir revanchierte sich mit dem Plakat einer hemdsärmeligen Göring-Eckardt.
    ... und Cem Özdemir revanchierte sich mit dem Plakat einer hemdsärmeligen Göring-Eckardt. © dpa | Soeren Stache
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    Etwas verwirrend kommt das Großplakat der Linkspartei daher. Was ist da jetzt durchgestrichen, und was gilt? © dpa | Gregor Fischer
    Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion und Spitzenkandidat der Partei Die Linke, Dietmar Bartsch (l.), und Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn lösten es auf: Der Wähler soll „Lust auf Linke“ bekommen.
    Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion und Spitzenkandidat der Partei Die Linke, Dietmar Bartsch (l.), und Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn lösten es auf: Der Wähler soll „Lust auf Linke“ bekommen. © dpa | Gregor Fischer
    An Köpfen für die Plakate fehlt es der Linkspartei jedenfalls nicht.
    An Köpfen für die Plakate fehlt es der Linkspartei jedenfalls nicht. © dpa | Gregor Fischer
    Auf einem Plakat wendet sich dien Linkspartei explizit gegen rechtsextreme Parolen.
    Auf einem Plakat wendet sich dien Linkspartei explizit gegen rechtsextreme Parolen. © dpa | Gregor Fischer
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    Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, kritisiert, diese Diskriminierung hätte schon in der zu Ende gehenden Legislaturperiode ausgeräumt werden können. Für sie ist das Menschenbild, das hinter einem Wahlausschluss von Menschen mit Behinderung steht, völlig aus der Zeit gefallen. Die Bundesrepublik stehe damit auch im Widerspruch zu den Menschenrechten und zur UN-Behindertenrechtskonvention. Auch der Aktivist Raul Krauthausen kritisiert den Ausschluss.

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    Die Argumente für diesen Wahlausschluss, die bis heute mehr oder weniger offen ins Feld geführt werden, beziehen sich in erster Linie auf die mangelhafte Kommunikationsfähigkeit der Betreuten. Wenn die Kommunikation zwischen Staat und Bürger nur eingeschränkt möglich sei, fehle es auch an Verständnis für die Wahlentscheidung als solcher. Damit sei Wahlbetrug Tür und Tor geöffnet.

    Bentele fordert, dass Parteien mehr mit Behinderten kommunizieren

    Tatsächlich ist es richtig, dass die Menschen Unterstützung bei der Wahrnehmung ihres Wahlrechts brauchen. Aber dies sei heutzutage ohne weiteres möglich, sagt Bentele. Es gibt Kommunikation über Leichte Sprache, über Bilder, über einfache Erklärstücke zu Parteien oder Kandidaten. Sollte unter dieser Betreuung tatsächlich der unwahrscheinliche Fall des Wahlbetrugs eintreten, betrügt ja wohl nicht der Behinderte, sondern eher der Betreuer.

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      Bentele dreht den Spieß um. Parteien und Kandidaten müssten sich viel mehr um Menschen mit Behinderung bemühen und Instrumente für eine bessere Kommunikation schaffen. Sie müssten mehr auf diese Menschen zugehen und versuchen, sie für sich zu gewinnen – etwa bei Veranstaltungen. Dies würde auch die vermeintliche Gefahr des Wahlbetrugs verringern.

      Pascal, der vom Betreuungsverein Lebenshilfe Dortmund betreut wird, sagte in einem Interview auf die Frage, wie er es finde, von der Bundestagswahl ausgeschlossen zu sein, ohne Zögern: „Mies!“ (dpa)