Berlin/Brüssel. Wird Haushalten das Gas abgedreht, wenn die Speicher leer sind? Wirtschaftsminister Habeck bereitet die Bürger schon auf Verzicht vor.

Noch ist unsicher, ob Russland nach Wartung der Pipeline Nord Stream 1 Deutschland wieder mit Gas beliefert. Über die Folgen eines anhaltenden Gasstopps wird jedoch intensiv diskutiert. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) löste nun Sorgen aus, dass Privathaushalte zugunsten von Unternehmen verzichten müssen, wenn es hart auf hart kommt.

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Gasnotstand: Was hat Habeck gesagt?

Im Falle eines dramatischen Engpasses sieht der nationale Notfallplan Gas vor, dass „geschützte Verbraucher“ wie soziale Einrichtungen oder private Haushalte auch dann noch versorgt werden, wenn etwa Betriebe bereits leer ausgehen. Habeck stellt diese durch die „SOS-Verordnung“ der EU festgelegte Priorisierung infrage, da sie für eine kurzfristige Störung gedacht sei – nicht aber für eine langfristige Unterbrechung. Komplett will Habeck Familien, Kindergärten oder Krankenhäusern das Gas nicht abdrehen. Der Minister fordert aber, dass auch private Haushalte „ihren Anteil leisten“.

Wie reagiert die Industrie?

Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, begrüßt den Vorstoß. „Die Priorisierung muss dringend geändert werden“, sagte Wolf unserer Redaktion. „Industriebetriebe müssen während einer etwaigen Alarmstufe vorrangig Gas erhalten, wenn ihr Bestand oder ihre Produktionsanlagen akut gefährdet sind oder sich infolge der Lieferketten massive Produktionsausfälle über den Betrieb hinaus ergeben würden.“

Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1: Die Ostsee-Pipeline, durch die seit 2011 russisches Erdgas nach Deutschland fließt, wird wegen planungsmäßiger Wartungsarbeiten für etwa zehn Tage abgeschaltet.
Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1: Die Ostsee-Pipeline, durch die seit 2011 russisches Erdgas nach Deutschland fließt, wird wegen planungsmäßiger Wartungsarbeiten für etwa zehn Tage abgeschaltet. © dpa | Jens Büttner

Gibt es Kritik?

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch wirft der Regierung einen „Panik- und Verzichtsmodus“ vor. „Die Bundesregierung muss zügig einen nachvollziehbaren Gasplan vorlegen, der zwei Dinge sicherstellt: Versorgung und Bezahlbarkeit. Gleichermaßen für Private und Industrie“, sagte Bartsch dieser Redaktion.

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„Es geht um elementare Bedürfnisse, wie eine warme Mahlzeit, warmes Wasser oder ein warmes Zimmer, und nicht um Luxusgüter, auf die sich leicht verzichten lässt“, sagte die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele dieser Redaktion. „An der Priorisierung der Privathaushalte darf nicht gerüttelt werden.“

Kann die Gasversorgung für Haushalte gedrosselt werden?

Technisch ist dies schwierig. Wird die Versorgung gekappt, muss jede Heizung von Experten einzeln wieder einsatzfähig gemacht werden. „Es geht nicht um Abschaltungen“, betonte daher ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums. Die Bundesregierung ruft einerseits zur Sparsamkeit auf. Habecks arbeitet zudem an einer Energieeinsparverordnung. Es müsse geprüft werden, ob es in erforderlich sei, in Privathaushalten gewisse Raumtemperaturen aufrecht zu erhalten, sagte der Sprecher. Denkbar seien auch „Zeitregime“. Warmes Wasser könnte also beispielsweise nur zu bestimmten Tageszeiten verfügbar sein.

Wirtschaftsminister Robert Habeck sorgt sich um die Gasversorgung in der kalten Jahreszeit.
Wirtschaftsminister Robert Habeck sorgt sich um die Gasversorgung in der kalten Jahreszeit. © dpa | Fabian Sommer

Kann Deutschland im Ernstfall auf Hilfe aus der EU hoffen?

Wenn die russischen Gaslieferungen ausbleiben und ein EU-Staat trotz aller Einsparungen selbst die Notversorgung nicht mehr aufrechterhalten kann, müssen andere EU-Staaten aushelfen. Bittet ein Land um Hilfe, muss laut „SOS-Verordnung“ erst die EU-Kommission grünes Licht geben, dann tritt der „Solidaritätsfall“ ein: Staaten, die Pipeline-Verbindungen zum Krisen-Land haben, müssen gegen Kostenerstattung mit Gas aushelfen - selbst wenn das bedeutet, das Gas für die eigenen Bürger und Unternehmen zu drosseln, solange geschützte Kunden noch versorgt werden können.

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Der Mechanismus gilt als „letztes Mittel“: Der Engpass eines Landes muss so bedrohlich ist, dass die Versorgung geschützter Kunden nicht mehr möglich ist und alle anderen Maßnahmen nicht mehr greifen. In Deutschland müsste die Bundesregierung also erst den Notfall ausrufen – die höchste von drei Krisenstufen des Gasnotfallplans. Zur Umsetzung müssen die Staaten zudem bilaterale Vereinbarungen treffen, um technische, rechtliche und finanzielle Fragen zu klären. Da sind viele Länder im Verzug.

Sind wir vorbereitet?

Deutschland steht vergleichsweise gut da, hat solche Abkommen mit Dänemark und Österreich geschlossen, mit Tschechien steht ein Rahmenabkommen. Habeck will Vereinbarungen mit weiteren Ländern wie Italien treffen. Ob Deutschland im Winter zu den Ländern zählt, die von der Solidarität der Nachbarn profitieren, oder ob es umgekehrt liefern muss, ist offen. Mit großer Aufmerksamkeit werden die täglichen Füllstände der Gasspeicher beobachtet: EU-weit lag der Wert Anfang der Woche bei 62 Prozent, in Deutschland bei knapp 65 Prozent, in Österreich waren die Speicher nur zu 48 Prozent gefüllt.

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Der Partei- und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, fordert mehr Zusammenhalt in der EU: „Die aktuelle Krise zeigt, dass wir mehr europäische Ambition für eine gemeinsame Energiepolitik brauchen“, sagte Weber, der auch CSU-Vize ist, unserer Redaktion. „Zwingend notwendig ist etwa ein verbindlicher europäischer Solidaritätsmechanismus, mit dem sich die EU-Staaten auf eine Gas-Knappheit vorbereiten. Zudem sollte die EU Flüssiggas gemeinsam einkaufen.“

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