Brüssel. Seit Wladimir Putin den Gashahn zudreht, ist die Debatte um Atomkraft wieder aktuell. In manchen europäischen Staaten war sie nie weg.

In der Nacht zu Dienstag ist der Albtraum deutscher Atomkraftgegner wahr geworden: Ein neues EU-Gesetz stuft nun auch Investitionen in die Atomenergie europaweit als klimafreundlich ein. Um Mitternacht endete die Einspruchsfrist gegen die entsprechende Änderung der Taxonomie-Regeln, die mit dem Siegel für „grüne“ Investments die Finanzierung dieser Projekte erleichtern soll. Was in Deutschland auf viel Kritik stößt, wird anderswo in Europa sehnlich erwartet: Atomenergie ist in vielen EU-Staaten im Aufwind – erst begünstigt durch Klimaschutz und steigende Energiepreise, nun auch als Folge des Ukraine-Kriegs.

Jenseits von Deutschland werden in 12 der 27 EU-Staaten derzeit Atomreaktoren betrieben, die 110 Meiler sichern nach aktuellen Daten ein Viertel der europäischen Stromproduktion. Vielfach sind nun neue Atomprojekte in Planung.

Atomkraft: Brüssel unterstützt neue Atomprojekte

In der Brüsseler EU-Kommission gibt es dafür starke Unterstützung, auch Präsidentin Ursula von der Leyen hat keine Einwände mehr – 2011 hatte sie in Berlin als Regierungsmitglied und Abgeordnete noch den deutschen Atomausstieg mit verantwortet. Von der Leyens Industriekommissar Thierry Breton sagt, den europäischen Green Deal zum Klimaschutz könne es ohne Atomkraft gar nicht geben. Energiekommissarin Kadri Simson betont: „Atomenergie reduziert die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und schafft als größte klimaschonende Quelle für die Grundlast der Stromversorgung Stabilität und Sicherheit.“

Die Internationale Energieagentur (IAE) empfiehlt wegen des Ukraine-Krieges, die Abhängigkeit von russischem Gas auch durch eine maximale Steigerung der Atomstrom-Produktion zu mindern. Allerdings könnte der Ukraine-Krieg auch neue Probleme für die Atomindustrie aufwerfen.

So ist die Atomkraft-Lage in der EU:

Frankreich: Das Nachbarland betreibt mit 56 Atomreaktoren die Hälfte aller Meiler in der Union, weltweit liegt es damit hinter den USA (93) auf Platz zwei noch vor China (53) und Russland (37). Frankreich bezieht fast 70 Prozent seines Stroms aus Atomkraft und erzeugt pro Kopf der Bevölkerung deshalb nur halb so viel C02 wie Deutschland.

Damit das so bleibt, sind allerdings in den nächsten Jahren hohe Investitionen in Nachrüstung und Neubau von Atomkraftwerken notwendig: Die EU-Kommission rechnet damit, dass Kraftwerksbetreiber europaweit schon bis 2030 etwa 50 Milliarden Euro in die Laufzeitverlängerung stecken müssen, mindestens die Hälfte davon in Frankreich. Und bis 2050 müssen nach Kommissions-Berechnungen sogar 400 Milliarden Euro investiert werden, um die Atomstrom-Produktion auf dem Niveau von heute zu halten.

Präsident Emmanuel Macron hat ehrgeizige Pläne, weshalb ihm das neue Klimaschutz-Siegel der EU sehr zupass kommt: Mindestens sechs neue Akw will er bis Mitte der 30er Jahre bauen lassen, acht weitere Projekte sollen geprüft werden. Zudem plant Macron, dass bald Mini-Reaktoranlagen mit kurzer Bauzeit und weniger Atommüll die „Neuerfindung der Atomkraft“ einläuten.

Doch in der Realität kämpft Frankreich mit gewaltigen Problemen: Der Bau von Druckwasserreaktoren einer neuen Generation entpuppt sich als Milliardengrab – ein als Vorzeigeprojekt gedachter Reaktor in Flamanville ist seit 2007 im Bau, aber immer noch nicht betriebsbereit; die Kosten stiegen in der Zwischenzeit von 3,3 auf 19 Milliarden Euro. Und aktuell steht mehr als die Hälfte der französischen Akw wegen Wartungsarbeiten und technischer Probleme still.

Wenn ein heißer Sommer das Wasser zur Kühlung der Meiler verknappt, dürfte sich die Lage verschärfen: Die Versorgungsunternehmen rufen die Bürger schon zum Stromsparen auf und setzen verstärkt Gaskraftwerke ein, um die Stromerzeugung aufrecht zu erhalten.

Die Niederlande wollen zur Atomkraft zurück

Belgien: Mit sieben Atomreaktoren sichert Belgien die Hälfte seines Strombedarfs. Eigentlich sollten alle Meiler bis 2025 vom Netz gehen, doch der Ausstieg wurde jetzt verschoben. Die Regierung will einen Teil der Reaktoren bis 2035 weiterlaufen lassen und zugleich den Bau neuer Mini-Akw prüfen.

Niederlande: Die neue Regierungskoalition hat die Rückkehr zur Atomenergie beschlossen, vor allem aus Klimaschutzgründen: Die Laufzeit des einzigen Akw in Borssele (Provinz Zeeland) wird verlängert, außerdem sollen zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden.

Die Visegrad-Staaten setzen auf Atomkraft

Tschechien / Slowakei / Ungarn / Slowenien: Zwei Atomkraftwerke betreibt Tschechien schon, sie liefern ein Drittel des Stroms. Um den vorgezogenen Kohleausstieg abzufedern, sollen am Standort Dukovany ein weiterer Reaktor und in Temelin wohl zwei neue Blöcke entstehen. In der benachbarten Slowakei liefern zwei Kraftwerke die Hälfte des benötigten Stroms, zwei neue Reaktoren gehen in den nächsten Jahren in Betrieb. Ungarn will sein Atomkraftwerk Paks um zwei neue Reaktorblöcke erweitern. Slowenien plant, die Laufzeit seines Akw Krsko um 20 Jahre zu verlängern.

Polen: Bislang hat das Land auf nukleare Energie verzichten, wegen des Kohleausstiegs will Polen nun aber in die Atomkraft einsteigen: Zwei Akw sollen im nächsten Jahrzehnt in Betrieb gehen, der Bau des ersten Reaktorblocks soll spätestens 2025 beginnen.

Finnland baut Atomkraftwerke für den Klimaschutz

Finnland / Schweden: Finnland betreibt zwei Atomkraftwerke mit inzwischen fünf Reaktoren, der Bau des jüngsten Blocks wurde allerdings erst mit 13 Jahren Verspätung fertig. Jetzt sollen für den Klimaschutz zwei weitere Akw gebaut werden – selbst die Grünen stimmen zu. Schweden produziert mit seinen fünf Kraftwerken 40 Prozent des Strombedarfs, nun wird über weitere Akw-Projekte debattiert.

Spanien: Fünf Kraftwerke mit sieben Reaktorblöcken sind am Netz. Sie werden zwischen 2027 und 2035 abgeschaltet, an diesem Ausstiegsbeschluss hält die Regierung fest.

Rumänien/Bulgarien: Rumänien stellt mit einem Atomkraftwerk ein Fünftel seiner Stromversorgung sicher und prüft den Bau von Mini-Akw. Bulgarien betreibt zwei Atomkraftwerke mit acht Blöcken. Nachdem sich Pläne für einen neuen russischen Reaktor zerschlagen haben, ist ein Akw-Projekt mit griechischer Beteiligung im Gespräch.

Osteuropäische Länder sind auf russische Bauteile angewiesen

Vor allem in den osteuropäischen Ländern gibt es allerdings ein Problem: Viele Reaktoren russischer Bauart beziehen ihre Brennelemente auf Basis langfristiger Lieferverträge aus Russland. Und der französische Atomkonzern Framatome hat erst Ende 2021 eine strategische Kooperation mit Russland für die Lieferung von Brennelementen vereinbart.

20 Prozent ihrer Uranimporte erhalten die EU-Staaten aus Russland. Wegen dieser Abhängigkeit ist der zivile nukleare Bereich von den EU-Sanktionen gegen Russland bisher ausgenommen. Doch Komplikationen sind nicht ausgeschlossen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.