Berlin. Bundespräsident Steinmeier wollte eine Debatte über den Pflichtdienst – die hat er bekommen. Gegenwind kommt aus dem eigenen Lager.

Zumindest sein erstes Ziel hat Frank-Walter Steinmeier schon einmal erreicht: Der Versuch, eine „Debatte“ anzuschieben über eine Dienstpflicht für junge Menschen, hat funktioniert – so viel kann man nach zwei Tagen feststellen. Dass er sich diese Debatte wünscht, hatte der Bundespräsident am Wochenende in einem Interview gesagt. „Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“, erklärte Steinmeier da. Bei der Bundeswehr zum Beispiel, aber auch in Altersheimen, Obdachlosenunterkünften oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.

Seit vor mehr als zehn Jahren die Wehrpflicht und damit auch die Ersatzdienste in Deutschland ausgesetzt wurden, wird die Idee immer wieder diskutiert: Sollten junge Männer und Frauen dazu verpflichtet werden, eine gewisse Zeit lang im Dienst der Gemeinschaft zu arbeiten?

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Pflichtdienst: CDU-Vize begrüßt Steinmeiers Vorschlag

Befürworter wie der Bundespräsident argumentieren, dass eine solche Erfahrung Empathie stärken kann, die Augen öffnen für die Situation anderer, gerade hilfsbedürftiger Menschen, und die Gesellschaft so näher zusammenbringt. Ähnlich wie Steinmeier sieht das zum Beispiel der stellvertretende CDU-Chef Carsten Linnemann.

„Wenn junge Menschen einen kleinen Teil ihres Lebens Dienst an der Gesellschaft tun, profitieren alle“, sagte er unserer Redaktion. Die Gesellschaft werde immer pluralistischer, der Kontakt der Milieus untereinander nehme ab. „Mit einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr könnte man dieser Entwicklung entgegentreten und die Bindekräfte in der Gesellschaft stärken“.

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Auch Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats, begrüßte Steinmeiers Ansinnen. Soziale Verantwortung zu fördern, sei ein wichtiges Statement, sagte Vogler. Doch die Vertreterin der Pflegekräfte warnte gleichzeitig davor, junge Menschen als „preiswerte Pflegeersatzkräfte“ zu betrachten. „Das würde weder den jungen Leuten noch den zu Pflegenden gerecht werden.“

Juso-Chefin Rosenthal: Pflichtdienst ist „Schlag ins Gesicht“ junger Menschen

Dass hinter der Idee vor allem der Wunsch stehen könnte, billige Arbeitskräfte zu rekrutieren, ist eine Sorge, die Kritikerinnen und Kritiker umtreibt. Der Vorschlag sei aus der Zeit gefallen und löse kein einziges Problem, erklärte Juso-Chefin Jessica Rosenthal. „Krankenhäuser, Pflegeheime und andere soziale Einrichtungen profitieren nicht davon, wenn junge Menschen verpflichtet werden, dort ihren Dienst zu leisten“, sagte sie unserer Redaktion.

Stattdessen brauche es massive Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, sodass der ganze Bereich attraktiver werde. Rosenthal sieht auch keinen Nachholbedarf beim sozialen Engagement ihrer Generation. Schon jetzt würden sich mehr als 63 Prozent der jungen Menschen engagieren, zum Beispiel für Klimaschutz, die Rechte von Geflüchteten oder in digitalen Initiativen. „Jetzt plötzlich einen Pflichtdienst einzufordern, das ist vermessen und ein Schlag ins Gesicht aller jungen, engagierten Menschen“, sagte sie.

Auch die Jugendorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) setzt auf bessere Rahmenbedingungen statt einer Pflicht, um Jugendliche von der Arbeit in sozialen Bereichen zu überzeugen. „Wir brauchen keine neuen Pflichtzeiten oder -jahre für junge Menschen“, sagte DGB-Bundesjugendsekretär Kristof Becker unserer Redaktion. Wenn mehr junge Leute als Arbeitskräfte in bestimmten Bereichen gebraucht würden, etwa in der Pflege, dann sollten dort „doch bitte einfach bessere Ausbildungs-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen durch die Arbeitgeber hergestellt werden“, forderte Becker.

Jugend- und Bildungsexperte: Besser Freiwilligendienst stärken

Der Vorschlag komme zu einer „unglücklichen Zeit“, sagte Jugend- und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, der zuletzt in einer im Mai vorgelegten Studie die Situation von 14- bis 29-Jährigen in Deutschland untersucht hatte. Die Corona-Pandemie habe junge Leute stark belastet, viele hätten den Eindruck gewonnen, dass in Schule, Ausbildung und Politik die Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg gefällt worden seien. Wenn jetzt auch noch über einen Wehr- oder anderen Pflichtdienst debattiert werde, „dann wird das bei vielen als übergriffig empfunden“, sagte Hurrelmann.

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Er rät dazu, eher bei der freiwilligen Bereitschaft für solches Engagement anzuknüpfen – immerhin vier Prozent der unter 18-Jährigen könnten sich laut der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ vorstellen, nach der Schule zur Bundeswehr zu gehen, weitere drei Prozent erwägen einen Freiwilligendienst.

Gegenwind erhält Steinmeier mit seinem Pflichtdienst-Vorstoß nicht zuletzt aus der Ampelkoalition. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hatten sich beide schon am Wochenende ausdrücklich gegen die Idee ausgesprochen.

Am Montag zeigte sich auch der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner zurückhaltend. Er verwies auf die bestehenden Freiwilligendienste wie das Freiwillige Soziale Jahr oder die Bundesfreiwilligendienste, in deren Rahmen sich fast 100.000 junge Menschen engagieren würden.

Die Bundesregierung habe sich vorgenommen, das bürgerschaftliche Engagement weiter zu stärken, sagte Büchner. Der Koalitionsvertrag sieht vor, bestehende Freiwilligendienste gegebenenfalls aufzustocken und die Rahmenbedingungen zu verbessern.

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