Flensburg/Oberstdorf. Wie reist es sich mit dem 9-Euro-Ticket? Unser Autor macht den Selbstversuch: Von Flensburg bis Oberstdorf – und das an nur einem Tag.

Während die meisten Deutschen noch schlafen, stehe ich auf einem halb verwaisten Bahnsteig in Flensburg. Schwerfällig erhebt sich die Sonne und glüht als orangefarbiger Ball hinter der dünnen Wolkendecke. Es ist Mittwoch, 1. Juni, fünf Uhr morgens. Seit wenigen Stunden findet in Deutschland ein großes Verkehrsexperiment statt. Für neun Euro kann jeder einen Monat lang alle Züge, Bahnen und Busse des öffentlichen Nahverkehrs nutzen. Gut, fast alle.

Mit der Rabattaktion will die Bundesregierung mehr Menschen für öffentliche Transportmittel begeistern und zeitgleich einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Und viele Deutsche wollen mitmachen: Sieben Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets meldete das Bundesverkehrsministerium am Dienstag. „Mega“ sei das, schrieb die Behörde euphorisch auf Twitter. Die Verkehrsverbünde rechnen mit 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzern. Der Fahrgastverband Pro Bahn fürchtet indes „Chaos“ in Form von überfüllten Bahnhöfen und Zügen, die von der Polizei geräumt werden müssen.

Tag eins des 9-Euro-Abenteuers: Wie groß ist der Run am ersten Tag?

Wird es gleich chaotisch? Und was erlebt man sonst noch, wenn man einen Tag in Regionalzügen unterwegs ist?

Die Suche nach Antworten führt mich von Flensburg nach Oberstdorf. Von einem der nördlichsten Bahnhöfe bis zum südlichsten Bahnhof Deutschlands. Vom Ostseefjord bis in die Allgäuer Alpen. Rund 822 Kilometer Luftlinie. Dazwischen: 85 Stopps und neunmal umsteigen. Und das zum Schnäppchenpreis. Selbst mit einer Bahncard 50 der Deutschen Bahn hätte mich das Ticket normalerweise rund 68 Euro gekostet. Planmäßig soll die Fahrt rund 17 Stunden dauern. Aber mit der Pünktlichkeit ist das immer so eine Sache. Kann ja immer mal ein Baum die Gleise blockieren oder das Zugpersonal fehlen.

Der Regionalexpress mit dem Ziel Hamburg rollt ein. Also, auf ins Vergnügen.

6.20 Uhr, Neumünster (Schleswig-Holstein):

Der Zug ist rund zur Hälfte gefüllt. Vor allem Pendler sind unterwegs. Die meisten starren auf ihr Handy, einige haben die Augen geschlossen. Auf dieser Strecke kommt es wegen Baumaßnahmen in den nächsten Tagen zu zahlreichen Zugausfällen, kündigt jemand vom Zugpersonal über Lautsprecher an. Auch während der Billigticket-Phase gehen die Baustellen ungebremst weiter – die Bahn will ihr marodes Streckennetz erneuern. Das kommende Pfingstwochenende wird somit zum ersten Stresstest für Fahrgäste und Bahnverbände. Draußen ziehen Felder, Windräder und Kühe vorbei, den Nord-Ostsee-Kanal haben wir überquert. Der Himmel klart auf. Ich freue mich auf meinen ersten Kaffee des Tages am Hamburger Hauptbahnhof.

Der Hamburger Hauptbahnhof am Mittwochmorgen, es ist schon einiges los.
Der Hamburger Hauptbahnhof am Mittwochmorgen, es ist schon einiges los. © Leon Grupe | Leon Grupe

8.20 Uhr, Winsen (Niedersachsen):

Der Metronom, den ich in der Elbmetropole genommen habe, ist voll. Die Luft ist stickig und mischt sich mit dem Geruch von Kaffee. Einige Fahrgäste stehen in den Gängen, weil Gepäckstücke anderer Passagiere die freien Sitze sperren. Bei den Gesprächen um mich herum ist der Billigfahrschein das Thema Nummer eins. „Ich glaube kaum, dass das Angebot viele Menschen vom Auto weglocken wird“, sagt eine ältere Frau zu ihre Sitznachbarin und schiebt die Lieblingsargumente aller Bahn-Kritiker hinterher: „Zu unzuverlässig, zu unpünktlich, zu viele Ausfälle.“

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Die Frau neben ihr murmelt irgendetwas Unverständliches in ihre Maske. Ich denke: Immerhin kamen meine zwei Züge bislang auf die Minute genau an. Dicke Regentropfen klatschen gegen die Scheiben und lassen das norddeutsche Flachland unscharf werden. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und döse vom sanften Schaukeln ein.

Die Fahrgäste in Uelzen warten auf den Ausstieg. Der Zug ist voll.
Die Fahrgäste in Uelzen warten auf den Ausstieg. Der Zug ist voll. © Leon Grupe | Leon Grupe

9.45 Uhr, Celle (Niedersachsen):

Im dritten Regionalexpress hat sich eine Schulklasse aus Lüneburg ausgebreitet. Sie wollen nach Hannover. Gesine Held ist Kunstlehrerin an der Gesamtschule. Vom 9-Euro-Ticket ist sie begeistert: „Das ist natürlich toll, dass wir jetzt ganz einfach so viele Ausflüge machen können“, sagt sie. „Nächste Woche haben wir den nächsten Tagesausflug geplant, dann geht es nach Bremen.“

Nächster Halt: Hannover. Es wird eng, aber von Chaos ist noch keine Spur. Eine Frau nimmt gegenüber von mir Platz. „Der ist ja zwei- bis dreimal so voll wie sonst“, sagt sie verwundert. „Bestimmt liegt das an dieser neuen Fahrkarte.“ Sie erzählt, dass sie regelmäßig nach Göttingen pendle, wo sie studiert. Weil sie ihr Semesterticket wie das 9-Euro-Angebot nutzen kann, muss sie sich kein extra Ticket kaufen. Nur wie die bereits gezahlten Semestergebühren rückerstattet werden, sei noch nicht klar.

Der Mann neben ihr ist wie ich mit dem Billigticket unterwegs. Er habe einen freien Tag und wolle die Messe besuchen. „Ich möchte das Angebot unbedingt so gut es geht ausnutzen“, sagt er. Für ihn sei deshalb die lange Anfahrt von Kiel kein Problem.

12.45 Uhr, Leinefelde (Thüringen):

Jede Minute zählt und ausgerechnet jetzt bewegt sich der Zug mitten auf der Strecke nicht weiter, sondern rollt sogar einige Meter nach hinten, bevor er wieder zum Stehen kommt. Das ist ärgerlich, da ich in Neudietendorf nur sieben Minuten zum Umsteigen habe. Sollte ich meinen Anschluss verpassen, käme ich eine Stunde später am Zielort an und da habe ich keine Lust drauf. Die Etappe nervt. Jemand hört so laut Musik, dass das ganze Abteil mithören kann; ein anderer raschelt permanent mit einer Brötchentüte und mein Vordermann riecht nach Zigarette. Manche Fahrgäste finden keinen Sitzplatz. „Ist hier noch frei“, fragt eine junge Frau einen älteren Mann. „Und wo soll dann mein Koffer hin?“, fragt er mürrisch zurück. Die Frau geht kopfschüttelnd weiter. Es scheint, als sei das Gepäckstück im Zug das, was das Handtuch am Pool ist. Mein Koffer, mein Platz.

Mein Blick wandert auf meine Uhr. Noch neun Stunden bis Oberstdorf. Gefühlt, dreht sich heute alles um die Zahl Neun. Knapp die Hälfte meines kleinen Abenteuers habe ich geschafft.

Ich komme mit meinem Sitznachbar auf der anderen Seite des Mittelgangs ins Gespräch. Er ist um acht Uhr in Hamburg losgefahren, erzählt er. Seitdem fahren wir dieselbe Strecke. Er will eine Freundin im Kulmbach besuchen. Mit dem ICE dauerte die Fahrt vier Stunden, sagt er, im Nahverkehr neun. „Für neun Euro nehme ich das gerne in Kauf. Außerdem bin ich gerne im Regio unterwegs, du hast mehr Zwischenstopps, an denen du dir die Beine vertreten und frische Luft schnappen kannst.“

Glück gehabt: Neudietendorf erreichen wir pünktlich.

14.35 Uhr, Grimmenthal (Thüringen):

Die gute Laune ist zurück. Der nächste Zug ist spärlich besetzt und ich genieße einen spektakulären Blick auf den Thüringer Wald, der so geheimnisvoll aussieht, als sei er extra für Märchen errichtet worden. Dennoch frage ich mich, warum es die Bahn immer noch nicht hinbekommen hat, in ihren Regionalbahnen Steckdosen am Sitz zu verbauen. Von WLAN ganz zu schweigen, das gab es auf der gesamten Fahrt nicht.

An den Bahnhöfen steigen mehr Menschen aus als zu. Zumindest auf diesem Abschnitt spürt man nichts von dem vermuteten Andrang. Und sollte der mal kommen, sieht sich die Bahn gewappnet. DB Regio hat mehr als 50 zusätzliche Züge ab dem 1. Juni versprochen, mit 60.000 zusätzlichen Sitzplätzen pro Tag in Regional- und S-Bahn-Zügen.

16.15 Uhr, Würzburg (Bayern):

Ich steige in einen völlig überfüllten Zug ein. Etliche Fahrgäste müssen stehen. Es ist sehr warm, die Klimaanlage funktioniert offenbar nicht. Im Waggon gibt es für die rund 300 Passagiere eine Toilette. Ist das neue Schnäppchenangebot an der hohen Auslastung schuld? Im Gang hat sich ein älteres Ehepaar mit zwei Elektro-Fahrrädern so hingestellt, dass sie den Weg versperren. Schon länger hätten sie eine mehrtägige Radtour an den Main geplant, sagt die Frau, komplett in Funktionsklamotten gekleidet.

„Aber als die 9-Euro-Monatskarte angekündigt wurde, war uns sofort klar, dass wir mit dem Zug fahren. Mit dem Auto wäre die Anreise jetzt deutlich teurer gewesen.“ So viele Passagiere wie heute, habe sie in auf dem Abschnitt aber noch nie gesehen, erklärt sie, während wir an Solaranlagen und ersten Weinbergen vorbeirauschen. Der Mann pflichtet ihr bei: „Vermutlich kommen gerade Pendler und Urlauber zusammen.“

Beinfreiheiten wie im Flugzeug: Im Regionalzug von Würzburg nach Treuchtlingen.
Beinfreiheiten wie im Flugzeug: Im Regionalzug von Würzburg nach Treuchtlingen. © Leon Grupe | Leon Grupe

19.40 Uhr, Augsburg (Bayern):

Noch drei Etappen bis Oberstdorf. Ich habe aufgehört, die Stunden bis zur Ankunft zu zählen, ich weiß nur, dass ich irgendwo im tiefsten Bayern bin. Die Orte, an denen wir halten, sagen mir nichts.

Ich unterhalte mich mit einer Psychologie-Studentin aus Stendal, in der Nähe von Berlin. Zusammen mit der Studentin aus Hannover ist sie die einzige von den von mir befragten Personen, die keine 9-Euro-Fahrkarte hat. Sie hat den ICE nach Augsburg genommen, das Ticket für den Regionalzug war inklusive. Sie findet die Aktion aber „super“, insbesondere „wegen des Klimaschutzes.“ Aus ihrer Sicht sollte es aber ähnlich Angebote für den Fernverkehr geben, gerade für junge Leute. „Wenn ich kurzfristig einen ICE buchen muss, wären das Flugzeug oder Auto häufig die günstigeren Alternativen."

Hier gilt das 9-Euro-Ticket nicht

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    Auf meiner Reise kommt die Billigfahrkarte trotzdem nicht bei jedem gut an. Auf dem Bahnsteig von Buchloe meckert eine Schaffnerin lautstark. „Jetzt muss ich immer nach dem Ausweis fragen“, sagt sie echauffiert. Tatsächlich ist die Fahrkarte nur mit einem offiziellen Identitätsnachweis gültig. Für die Schaffnerin ein großes Ärgernis. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie häufig ich die Leute schon daran erinnern musste.“ Nur 10 „normale Tickets“, wie sie es ausdrückt, habe sie kontrollieren müssen.

    21 Uhr, irgendwo in Bayern:

    Letzter Abschnitt. Wir fahren durch das Allgäu. Wir, das sind gut ein Dutzend Zuggäste und ich. Es ist leer geworden, es ist ja auch spät. Wäre ich jetzt im ICE, würde ich mich vermutlich ins Bordrestaurant setzen, aber das ist ein Regionalzug. Hier gibt es höchstens einen Snack aus dem Automaten. Der Himmel hat sich arg zugezogen, Nebel liegt wie eine Rauchschwade über den hügeligen Wäldern.

    Reporter Leon Grupe hat es offensichtlich geschafft: Nach fast 17-stündiger Fahrt ist Oberstdorf erreicht.
    Reporter Leon Grupe hat es offensichtlich geschafft: Nach fast 17-stündiger Fahrt ist Oberstdorf erreicht. © Leon Grupe | Leon Grupe

    22.05 Uhr, Oberstdorf (Bayern):

    Geschafft, aber glücklich. Pünktlich erreiche ich mein Ziel. Bis auf eine kurze Verspätung in Würzburg, waren alle Regionalzüge pünktlich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Deutsche Bahn hat sich heute routiniert gezeigt.

    Mein Fazit: Mit dem 9-Euro-Ticket durch Deutschland zu tingeln, lohnt sich. Aber es müssen ja nicht gleich 17 Stunden sein.

    Dieser Text erschien zuerst auf www.morgenpost.de