Berlin. Die erste Frau an der Spitze des DGB, Yasmin Fahimi, über die Folgen des Ukraine-Krieges - und wie Deutschland darauf reagieren sollte

Vergangene Woche ist sie zur Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gewählt worden - jetzt hat sie unserer Redaktion ihr erstes großes Interview gegeben. Yasmin Fahimi lässt keinen Zweifel, wer ihr besonders am Herzen liegt.

Sie sind die erste Frau an der Gewerkschaftsspitze. Was machen Sie anders als Reiner Hoffmann, Michael Sommer und die anderen Männer vor Ihnen?

Yasmin Fahimi: Erst einmal verbindet uns in der Gewerkschaftsbewegung das gleiche Ziel: eine starke Stimme für die Beschäftigten zu sein. Ja, es hat lange gedauert, bis eine Frau an der Spitze des DGB steht. Und es ist gut, dass es jetzt so ist. Ich sehe mich aber nicht nur als Symbol, sondern möchte die Situation der erwerbstätigen Frauen stärker in den Fokus nehmen.

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© Reto Klar

Wie wollen Sie die Arbeitswelt von Frauen verbessern?

Fahimi: Man muss sich die Arbeitsrealität nur anschauen: Frauen arbeiten überproportional in Teilzeit. Sie sind ganz überwiegend diejenigen, die mit Minijobs nur Zuverdienerinnen in der Familie sind. Sie werden steuerlich benachteiligt. Und sie sind sehr häufig in personennahen Dienstleistungen tätig – beispielsweise im Sozialwesen oder im Erziehungsbereich –, die schlechter bezahlt sind. Es muss unser Ziel sein, bessere Arbeits- und Lohnbedingungen für alle Frauen zu schaffen.

Konkret?

Fahimi: Ich möchte, dass für alle Frauen ein selbstständig verdientes existenzsicherndes Einkommen möglich ist. Dazu müssen wir dringend die Steuergesetzgebung verändern und die Lohnsteuerklasse 5, also das Ehegattensplitting, abschaffen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gibt.

Minijobs gehören abgeschafft – oder allenfalls für Studierende, Rentnerinnen und Rentner zugelassen. Um die Arbeitsbedingungen von Frauen zu verbessern, muss die Personalausstattung in der Pflege, den Krankenhäusern, den Schulen und Kitas deutlich aufgestockt werden.

Die größte Sorge vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die Inflation. Reichen die Entlastungspakete der Regierung?

Fahimi: Beim ersten Entlastungspaket fehlt die Zielgenauigkeit - Menschen mit geringem Einkommen haben davon nicht genug. Von den gesamten Kosten, die dem Staat durch das Steuerentlastungsgesetz entstehen, entfallen nur sieben Prozent auf die Erhöhung der Entfernungspauschale für Fernpendler. Der Rest wird eher mit der Gießkanne verteilt. Das gilt auch für die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags von 1000 auf 1200 Euro.

Beim zweiten Entlastungspaket, das den Anstieg bei den Energiekosten abfedern soll, stimmt die Stoßrichtung. Aber es gibt Nachholbedarf. Rentnerinnen, Rentner und Studierende dürfen nicht leer ausgehen. Sie sollten die Energiepauschale von 300 Euro ebenfalls bekommen. Darüber hinaus fordern wir eine befristete Senkung der Mehrwertsteuer für Energie sowie einen Gaspreisdeckel für alle Haushalte.

Woher soll das Geld dafür kommen?

Fahimi: Wir müssen eine Vermögensteuer einführen, die Kapitalertragssteuer an die Besteuerung von Arbeit anpassen und die Schuldenbremse zumindest für die nächsten Jahre aussetzen. Das sind drei konkrete Maßnahmen, die in dieser historischen Situation geboten sind.

Es geht darum, die Lasten des Krieges und der Pandemie zu tragen – und gleichzeitig den klimaneutralen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu meistern. Es wäre widersinnig, jetzt beim Staatshaushalt auf die Bremse zu treten. Wir müssen von dem Bild wegkommen, Schulden des Staates wären eine Belastung für die kommenden Generationen.

Wollen Sie das in Abrede stellen?

Fahimi: Die wahre Belastung kommt, wenn uns der klimaneutrale Umbau nicht gelingt. Dann ist unsere Zukunft verloren. Das ist die größte Gefahr für die junge Generation. Jeder, der sich eine Wohnung anschaffen will, nimmt eine Hypothek auf. Wenn Unternehmen in ihre Standorte investieren, organisieren sie sich Fremdkapital.

Es gibt kaum ein anderes Land in der Welt, das einen so tragfähigen und stabilen Staatshaushalt hat wie Deutschland. Kredite, die für Investitionen eingesetzt werden, mehren unseren Wohlstand. Diese Schulden sind keine Last. Sie stellen sicher, dass wir nicht alle ärmer werden.

In der historischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Regierung Adenauer einen Lastenausgleich beschlossen: Alle Vermögen über 5000 D-Mark wurden mit einer Abgabe in Höhe von 50 Prozent belastet. Welche Lehre ziehen Sie daraus?

Fahimi: Ich finde einen Lastenausgleich auch heute bedenkenswert – zusätzlich zur Einführung einer Vermögensteuer. Natürlich müsste man andere Summen nehmen als 1952. Ich denke an Vermögen über eine Million Euro, die man mit einer Abgabe von einem Prozent belasten könnte. Und wenn man den Lastenausgleich über mehrere Jahre streckt, könnte man einen etwas höheren Prozentsatz nehmen.

Dafür gibt es noch ein anderes Wort: Enteignung.

Fahimi: Von Enteignung kann keine Rede sein. Ich stelle das Eigentum an sich nicht infrage. Es geht ja auch nur um Vermögen, das in der gleichen Zeit eines Lastenausgleichs gemehrt wird. Eigengenutzte Immobilien sollte man davon auch ausschließen. Aber in dieser historischen Situation muss sichergestellt werden, dass starke Schultern mehr stemmen als schwache – nicht zuletzt, um den sozialen Frieden in unserem Land aufrechtzuerhalten.

Wir müssen realisieren, dass zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland 65 Prozent des Gesamtvermögens unserer Volkswirtschaft besitzen. Allein die zehn reichsten Personen konnten laut Studien in den letzten beiden Jahren der Pandemie noch einmal 100 Milliarden zusätzlich ansammeln.

Um Ungleichheit bei den Vermögen zu verringern, hat der Ostbeauftragte Carsten Schneider ein sogenanntes Grunderbe ins Gespräch gebracht: 20 000 Euro für alle 18-Jährigen. Entspricht das Ihren Vorstellungen?

Fahimi: Ich halte das Grunderbe für einen interessanten Gedanken, denn es kann durchaus eine ausgleichende Wirkung haben. Voraussetzung ist natürlich auch hier, dass wir eine Umverteilung von oben nach unten hinbekommen. Dann ließe sich das Grunderbe finanzieren.

Die Bundesregierung will – als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg – 100 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben. Gehört das zu den Investitionen, die Ihnen vorschweben?

Fahimi: Ich sehe die Notwendigkeit einer besseren Ausstattung der Bundeswehr, wünsche mir aber eine andere Debatte: Wofür wird die Bundeswehr eigentlich ausgestattet? Für die Landesverteidigung? Für die Bündnisverteidigung? Oder für Auslandseinsätze?

Darüber gibt es nicht wirklich Klarheit. Es darf nicht zu einer unkontrollierten Aufrüstung kommen, die neue Provokationen entfacht. Das Sondervermögen darf kein Freifahrtschein sein für alle möglichen Anschaffungen, die sich irgendjemand mal am Schreibtisch ausgedacht hat.

Sie sind in Wahrheit gegen eine Aufrüstung der Bundeswehr.

Fahimi: Deutschland ist eines der größten Industrieländer der Erde. Um unserer Verantwortung gerecht zu werden, brauchen wir mehr als eine gut aufgestellte Bundeswehr, nämlich vor allem auch Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktprävention. Wir wollen eine Kopplung der beiden Ausgaben.

Die 100 Milliarden sollen also nicht nur für Rüstung ausgegeben werden.

Fahimi: Das muss am Ende die Bundesregierung verantworten. Aber ja, es wäre ein guter Ansatz, das Sondervermögen nicht nur für Kriegsgerät, sondern auch für präventive Maßnahmen auszugeben. Im Übrigen pochen wir darauf, dass sonstige Zukunftsprojekte der Bundesregierung durch das Sondervermögen nicht in Frage gestellt werden. Die Stabilität des Sozialstaats und alle ökologisch-sozialen Reformvorhaben müssen abgesichert sein.

Halten sich die Gewerkschaften in dieser schwierigen Situation bei den Tarifverhandlungen zurück?

Fahimi: Alle Mutmaßungen über eine Lohn-Preis-Spirale sind Unfug. Die Inflation ist nicht der Entwicklung der Löhne in Deutschland geschuldet, sondern Ergebnis von Krisen, Lieferkettenunterbrechungen, Rohstoffmangel und Spekulationen. Deswegen bedarf es anderer Instrumente, als jetzt über die Lohnpolitik zu gehen.

Eine zeitweise Inflation ist nicht so schädlich für das Land wie der Kaufkraftverlust der Bevölkerung. Meine Sorge ist, dass wir in eine Rezession laufen. Und wenn Rezession und Inflation zusammenkommen, haben wir ein wirkliches Problem.

Ihre Vorgänger hätten an dieser Stelle einen „ordentlichen Schluck aus der Lohnpulle“ gefordert. Welche Formulierung wählen Sie?

Fahimi: Für den sozialen Frieden in Deutschland ist es von ganz zentraler Bedeutung, dass sich die Beschäftigten jetzt auch mitgenommen fühlen. Wir brauchen ein klares Signal, dass die Kosten der Krise nicht auf sie abgewälzt werden. Deswegen bleiben wir bei unserem Anspruch: Wir wollen jetzt einen ordentlichen Schluck aus der Lohnpulle.

Der gesetzliche Mindestlohn steigt am 1. Oktober auf zwölf Euro. Geben Sie sich damit zufrieden?

Fahimi: Wir begrüßen die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Sie ist ja auch Ergebnis unserer beharrlichen Arbeit. Wir sehen aber auch das Problem, dass die Entscheidung vor der Inflation und der Energiekrise stattgefunden hat.

Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, ob diese zwölf Euro reichen. Ich setze allerdings sehr darauf, dass die Mindestlohnkommission die wirtschaftliche Gesamtlage in den nächsten Anpassungsrunden im Blick hat und verantwortlich entscheidet.

Wie geht die Integration ukrainischer Kriegsflüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt voran?

Fahimi: Ich bin froh, dass man eine Umstellung der Integrationspolitik in Deutschland vorgenommen hat. Das muss eine grundsätzliche Kehrtwende in der deutschen Flüchtlingspolitik sein – auch für alle anderen. Ich denke an den schnellen Anspruch auf Grundsicherung, aber vor allem auch den direkten Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Mir ist nicht wirklich erklärlich, warum wir dieses System der Unterscheidung zwischen Grundsicherung und Asylbewerberleistungen immer noch aufrechterhalten. Beim derzeitigen Zugang zu den Leistungen gibt es allerdings ein bürokratisches Problem …

… das wäre?

Fahimi: Bevor die Geflüchteten irgendwelche Leistungen in Anspruch nehmen können, müssen sie zur Ausländerbehörde, um sich den Aufenthalt bestätigen zu lassen. Dafür brauchen sie einen persönlichen Termin – und das ist im Moment das Nadelöhr. Das dauert oft viele Wochen. Und das ist widersinnig. Wir machen das Tor weit auf, um den Kriegsflüchtlingen eine schnelle Perspektive zu bieten. Und dann halten unterbesetzte Ausländerbehörden alles auf. Das ist eine gefährliche Phase, in der diese Menschen nicht wohlgemeinte und zum Teil illegale Job-Angebote bekommen. Es ist wirklich traurig, dass manche nicht davor zurückschrecken, das Leid der Geflüchteten auszunutzen. Wir brauchen schnelle Informationsangebote und vor allem arbeits- und sozialrechtliche Beratung.

Was sagen Sie jenen, die diese Menschen als eine Lösung für den Fachkräftemangel in Deutschland betrachten?

Fahimi: Mir gefällt diese nüchterne Verwertungslogik nicht. In erster Linie geht es jetzt darum, den Menschen zu helfen. Wir haben unter den Ukrainerinnen und Ukrainern viele gut ausgebildete Menschen, die wir schnell und leicht in unseren Arbeitsmarkt einbeziehen können. Das ist eine Bereicherung für uns – und für die Geflüchteten. Wie lange die Menschen bei uns bleiben, das kann aber keiner prognostizieren. Darum kann es am Ende auch nicht gehen. Wer glaubt, das Fachkräfteproblem in Deutschland durch die Ukrainerinnen und Ukrainer zu lösen, der ist schief gewickelt.

SystemDie gesetzliche Rente funktioniert nach dem Äquvivalenz- und dem Solidarprinzip.
Renten-ArtenGrund-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente
AusnahmenSelbstständige und Freiberufler sind in der Regel von der Versicherungspflicht befreit.
FinanzierungDie gesetzliche Rente in Deutschland ist grundsätzlich umlagenfinanziert.
ProblemeDie Unterfinanzierung resultiert hauptsächlich aus der zunehmend älter werdenden Bevölkerung in Deutschland.
Drei SäulenDie Altersvorsorge in Deutschland umfasst die gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge.
UrsprungDie gesetzliche Rente wurde am 22. Juli 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck offiziell eingeführt.