Kiew. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Amt antrat, nahm ihn weder Putin noch der Westen ernst. Jetzt ist alles anders.

Der erste Schlag richtet sich gegen das Haupt der Nation. In der Nacht auf den 24. Februar landen russische Fallschirmjäger in Kiew. Sie sollen Präsident Wolodymyr Selenskyj gefangen nehmen oder töten. Das ist Wladimir Putins Auftrag. Der Kremlchef will einen Regimewechsel erzwingen, die ganze Ukraine seiner Macht unterwerfen. Die Invasion sichert den „Enthauptungsschlag“ ab. Der politische Kopf des Landes soll fallen, damit das kopflose Land kapituliert.

Und was tut Selenskyj? „Mit meiner Frau Olena bin ich zu unseren Kindern gegangen, um sie zu wecken“, erzählt er später. Der neunjährige Kyrylo und die 17-jährige Oleksandra sollen sich zur Flucht bereit machen. Aber sonst? Sind da nur ein paar Sinneseindrücke: „Es war dunkel und laut.“ Zweimal versucht die russische Einheit, den Präsidentenpalast zu stürmen – und scheitert. Seitdem überzieht Russland die Ukraine mit Krieg. Aus dem Grauen aber ragt Selenskyj wie eine Lichtgestalt hervor. Weil er bleibt, statt zu fliehen.

„Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, antwortet Selenskyj, als der US-Geheimdienst ihn außer Landes bringen will. Hätte die Ukraine kapituliert, wenn der Kopf gefallen wäre? Jede Antwort ist Spekulation. Im Land selbst sind sich aber fast alle einig, dass sie erst recht gekämpft hätten. Für ihren Präsidenten, der zum Märtyrer geworden wäre. Stattdessen wird er zum unbestrittenen Anführer, mit mehr als 90 Prozent Zustimmung.

Ukraine: Parlamentarier, Präsidenten und Premiers pilgern nach Kiew

Doch nicht nur die Menschen in der Ukraine verehren ihren Freiheitshelden. Seit Wochen pilgern Parlamentarier, Präsidentinnen und Premiers nach Kiew, um Selenskyj ihre Aufwartung zu machen. Die Bilder sprechen für sich. Selenskyj beim „Spaziergang“ mit dem Briten Boris Johnson auf dem Maidan, Selenskyj neben US-Verteidigungsminister Lloyd Austin.

Drei Monate Weltgeschichte. Drei Monate, die im 44-jährigen Leben des Wolodymyr Selenskyj alles andere überstrahlen. Oder überschatten, je nach Perspektive. Denn es gehen auch die Bilder aus Butscha um die Welt und jene aus dem apokalyptisch zerbombten Mariupol. Doch wird es Selenskyj gerecht, sein Leben auf drei Monate zu reduzieren? Kaum. Und vor allem wird man so der Ukraine nicht gerecht.

Klar ist: Der 24. Februar 2022 wäre als historische Chiffre ohne den 20. Mai 2019 nicht denkbar. An jenem Montag in Kiew tritt Selenskyj im Parlament ans Pult, um seinen Amtseid abzulegen. „Wir haben den Weg nach Europa gewählt“, sagt er. Ein Bekenntnis, das kaum jemand ernst nimmt. Selenskyj spricht mit der sonoren Stimme eines erfolgreichen Schauspielers. Vom „Komiker in Kiew“ schreiben Kommentatoren im Westen. Im Kreml fällt das Wort vom „Politclown“.

Selenskyj als Schauspieler und Comedian: Bevor er Präsident wurde, spielte er ihn in der Serie „Diener des Volkes“.
Selenskyj als Schauspieler und Comedian: Bevor er Präsident wurde, spielte er ihn in der Serie „Diener des Volkes“. © channel 4 | CHANNEL 4

Selenskyj: Vom Schauspieler zum gefeierten Helden

Dabei hat Selenskyj kurz zuvor einen historischen Wahlsieg eingefahren. Mit 73 Prozent der Stimmen schlägt er Amtsinhaber Petro Poroschenko vernichtend. Bekannt ist Selenskyj aus einer TV-Serie. Dort spielt er einen Lehrer, der wütend auf „die Politik“ ist. Er hält eine Brandrede, die zum Internethit wird – plötzlich wollen alle den Lehrer als Präsidenten. Aus der Filmidee macht Selenskyj Wirklichkeit.

Das muss Realsatire sein. So sehen es viele Beobachter. Doch sie irren. So wie sie sich in der Ukraine täuschen. Das Land sei gespalten, korrupt und nicht reformierbar, heißt es. Selenskyj sieht das anders. Der Comedian im Präsidentenamt meint es bitterernst, als er in seiner Antrittsrede die Einheit der Nation beschwört: „Es gibt keine wahren und falschen Ukrainer.“ Die Unterscheidung zwischen EU-Fans und Russlandfreunden sei Unfug. Die gesamte Ukraine habe sich für Europa entschieden. „Das ist unser gemeinsamer Traum. Aber wir teilen auch einen Schmerz. Jeden Tag sterben Menschen im Donbass.“ Lesen Sie auch: Wie ein Feldherr – Putin trifft Kriegsentscheidungen selbst

Selenskyj wollte die Ukraine vereinen und modernisieren

Damals trägt Selenskyj noch Anzug und Krawatte statt Militärhemden. Er will auch kein Kriegspräsident sein. „Wenn im Donbass ein Mensch stirbt, stirbt immer auch ein Stück von uns allen“, sagt er. Einer für alle, alle für einen. Das ist von Anfang an Selenskyjs Devise. Tausende Menschen sind zu diesem Zeitpunkt in der Ostukraine bereits gestorben, seit Russland 2014 einen Krieg im Donbass entfesselt hat.

Selenskyj meint am 20. Mai 2019 alles genau so, wie er es sagt. Er will die Ukraine endgültig vereinen, modernisieren und in die EU führen. Er möchte aber auch Frieden mit Russland schließen. Das jedoch will Putin nicht. Der Kremlchef lässt den ukrainischen Präsidenten beim Gipfel in Paris im Dezember 2019 abblitzen. „Mehr war nicht drin“, sagt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der mit Kanzlerin Angela Merkel vermittelt.

Als Schüler war Selenskyj der Klassenclown

Also ist gar nichts drin, folgert Selenskyj. Nach dem Treffen in Paris steuert er um. Er setzt auf US-Hilfe – und auf eigene Stärke. Wie sehr die Ukraine unter Führung ihres jungen Präsidenten als Nation zusammenwächst, begreift die Welt erst nach dem russischen Überfall am 24. Februar. Doch woher nimmt Selenskyj seine einigende Kraft?

In der Biografie sucht man vergeblich nach Schlüsselmomenten. Da ist das Judentum seiner Eltern, dem aber erst im Nachhinein eine Bedeutung zuwächst, als Putin den Überfall auf die Ukraine mit dem absurden Schlagwort der „Entnazifizierung“ begründet. Spiritualität jedenfalls ist nicht die Sache der Selenskyjs. Mutter Rimma ist Ingenieurin, Vater Oleksandr Professor für Kybernetik.

Dem jungen Wolodja ist das alles zu trocken. Als Schüler im südukrainischen Krywyj Rih ist er Klassenclown, bald tritt er als Kabarettist auf. Das Jurastudium läuft später nebenher. Mit 25 heiratet er seine Jugendliebe Olena. Viel normaler geht es nicht in der Ukraine. Was also ist das Geheimnis des Schulterschlusses zwischen dem Präsidenten und seinem Volk?

Viel spricht dafür, dass das Grundgefühl der Einheit zuerst da war. Selenskyj hat diese Gemeinschaft dann wohl eher erspürt als analysiert. Bei seinem Amtsantritt formuliert er noch tastend: „Was ist, wenn dies tatsächlich unsere nationale Idee ist – uns zu vereinen und das Unmögliche möglich zu machen?“ Dann, ja, dann wird das Unmögliche vielleicht möglich.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

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