Schwedt. Die Anlage in Brandenburg ist in der Hand des russischen Konzerns Rosneft. Mit dem Embargo fürchtet die Stadt einen Rückfall um Jahrzehnte.

Mike Bischoff steht vor einem knallroten Bus auf dem Kirchplatz und spricht den Passanten Mut zu. Er gibt sein Bestes, aber es fällt ihm nicht leicht. Bischoff ist Politiker der SPD. Im Brandenburger Landtag vertritt er die Uckermark, zu der die Stadt zählt. Das Haar weiß, die Jacke grau, die Jeans blau. Viele Einwohner kennt er beim Namen und schüttelt jedem die Hand. Es sind viele Hände, die er an diesem Vormittag schüttelt. Er wurde vor 57 Jahren in Schwedt geboren; er hat immer hier gelebt. Die Sonne scheint, das Wetter ist herrlich, doch Bischoff blickt in besorgte Gesichter. Die Schwedter wollen von ihm wissen, wie es mit ihrer Stadt, ja, der ganzen Region weitergeht.

Schwedt, 30.000-Seelen-Gemeinschaft, tief im Nordosten der Bundesrepublik gelegen. Sieben Kilometer sind es von hier zur polnischen Grenze, davor Wiesen, Wälder, kleine Seen, die Oder. Ein Idyll. Uckermark eben.

Ukraine-Krieg: Die Weltpolitik hat Schwedt eingeholt

Nun hat die Weltpolitik den Ort eingeholt. Schwedt ist auf dem Weg zur deutschen Unabhängigkeit von russischem Öl zum Hindernis geworden. Der Grund ist die PCK-Raffinerie. Dort wird russisches Rohöl verarbeitet. Neben Leuna ist es der letzte Ort in Deutschland, der überhaupt noch Öl aus Putins Land bezieht. Aber in Leuna will der Betreiber nicht mehr in Russland einkaufen. Aus Sibirien läuft die Schmiere über die Druschba-Pipeline nach Schwedt. "Druschba" bedeutet Freundschaft. Einst war die Freundschaft ein Segen aus dem sozialistischen Bruderland, jetzt liegt sie wie ein Fluch über der Stadt. Lesen Sie auch: Erdöl: Wofür wird das "schwarze Gold" eigentlich verwendet?

Mehrheitlich ist die PCK, wie sie hier genannt wird, in der Hand des russischen Staatskonzerns Rosneft. Als Wirtschaftsminister Robert Habeck Ende April das Ja zum Ölembargo verkündete, lies er offen, wie die Anlage unter deutsche Kontrolle kommen könnte. Dass Rosneft andere Lieferverträge schließt, gilt als ausgeschlossen. Als letztes Mittel sprach Habeck von Enteignung. Seither ist eine ganze Region in Aufruhr. Was passiert mit der PCK und den Angestellten? Was wird aus der Stadt? Alles noch unklar.

Tausende Arbeitsplätze hängen an der PCK-Raffinerie

"Bei vielen Schwedtern spüre ich Angst", sagt Bischoff. Er hat auf einer Mauer vor der Kirche Platz genommen. "Sie sind vor allem entsetzt darüber, dass die Reihenfolge falsch ist. Es war ein Fehler des Wirtschaftsministers, erst über ein Embargo zu reden, das vielleicht schon in wenigen Tagen eintritt, als mit den Einwohnern und der PCK zu sprechen. Herr Habeck provoziert gerade ein massives Energieproblem und das Wanken einer ganzen Region. Das macht mich traurig."

Dass die Bundesregierung über die Zukunft von Betrieben entscheidet, erinnert ihn an die Wendejahre. Er musste mit ansehen, wie Unternehmen in der Gegend reihenweise dichtgemacht wurden. Den anschließenden Strukturwandel habe Schwedt gut verkraftet, obgleich der "20 bis 30 Jahre" gedauert habe. "Dieser Erfolg steht jetzt auf dem Spiel", gibt Bischoff zu bedenken. "Ohne die PCK werden wir um Jahrzehnte zurückgeworfen." Es frustriert ihn, dass der grüne Wirtschaftsminister trotz Einladung noch nicht nach Schwedt gekommen ist. "Ich erwarte von ihm, dass er persönlich erscheint."

Zahlreiche Jobs in der Stadt hätten direkt oder indirekt mit der Raffinerie zu tun, sagt auch Annekathrin Hoppe, Bürgermeisterin von Schwedt und parteilos. "Diese wären massiv bedroht. Mein wichtigstes Anliegen ist deshalb, für den Erhalt aller Arbeitsplätze zu kämpfen." Seit Tagen steht bei ihr das Telefon nicht mehr still. Als Russland in die Ukraine einmarschierte, habe sie eine "böse Vorahnung" gehabt, dass es einmal so weit kommen würde. "Wir setzen unsere ganze Hoffnung auf das Versprechen des Bundeskanzlers und des Bundeswirtschaftsministers, den Industriestandort Schwedt in dieser Situation nicht alleinzulassen."

"Schwedt ist PCK und PCK ist Schwedt"

Noch debattiert die Bundesregierung, wie sie den Betrieb und damit auch die Jobs der Angestellten sichern kann. In Berlin sagen sie: Notfalls transportieren wir Öl von Danzig mit dem Schiff nach Rostock und leiten es von dort per Direktpipeline nach Schwedt.

In Schwedt sagt Landtagsabgeordneter Mike Bischoff: Die Rostocker Leitung könne die Raffinerie höchstens mit 60 Prozent der benötigten Menge versorgen. Außerdem sei das russische Erdöl besonders schwefelhaltig und die Anlagen der Raffinerie genau auf diese Sorte ausgerichtet. Sie müssten zusätzliches Öl aus Brasilien importieren. Die PCK wäre völlig unwirtschaftlich.

Stolz erwähnt der SPD-Mann noch die 30 Millionen Euro an Rücklagen, auf denen der Ort sitzt. Für eine ostdeutsche Kleinstadt gehe es Schwedt noch gut. Er sieht ein Kamerateam, das nächste Interview wartet. Wahrscheinlich hat Schwedt noch nie einen derartigen medialen Andrang erlebt. Bischoff erhebt sich, nestelt an seinen Jackenärmeln, setzt sich kurz wieder und betont ein weiteres Mal die Bedeutsamkeit des Werks: "Schwedt ist PCK und PCK ist Schwedt." Der Satz klingt wie ein Menetekel für das, was der Stadt noch bevorstehen könnte.

Der Weg zur Raffinerie führt vorbei an Plattenbauten, verlassenen Hallen und grasenden Kühen. Schon von Weitem sieht man die Schornsteine. Wie Wolkenkratzer ragen die kargen Türme empor. Das Areal ist gewaltig.

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Neun von zehn Autos fahren mit Benzin aus Schwedt

1964 ging das damalige "Erdölverarbeitungswerk" in Betrieb und trug dazu bei, dass Schwedt, gegen Kriegsende schwer zerstört, florierte und sich von den Kriegsfolgen gut erholte. Arbeitskräfte aus der gesamten DDR zogen mit ihren Familien in die Stadt. In wenigen Jahren wurden Neubauten, Schulen und Kindergärten errichtet. Als die DDR zerbrach, hatte Schwedt noch mehr als 52.000 Einwohner, fast doppelt so viele wie heute.

Aktuell beschäftigt die PCK gut 1200 Angestellte und ist der größte Arbeitgeber der Stadt. Auf dem Areal sind zudem weitere 80 Unternehmen angesiedelt mit insgesamt 2000 Mitarbeitern. In der Raffinerie werden jährlich zwölf Millionen Tonnen Öl zu Benzin, Kerosin und Diesel verarbeitet. Die PCK bildet für Ostdeutschland ein wirtschaftliches Rückgrat und versorgt mit seinen Treibstoffen die Region Berlin-Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie Teile Westpolens zu mehr als 90 Prozent. Dort fahren neun von zehn Autos mit Kraftstoff aus Schwedt. Wenn die Raffinerie schließen würde, könnte an den Tankstellen Benzin fehlen und am Berliner Flughafen Kerosin.

Der Parkplatz vor dem PCK-Haupteingang. Der Weg auf das Gelände endet nach wenigen Metern an der Schranke. Dort stehen mehrere Security-Mitarbeiter mit ernsten Mienen und zu großen Polohemden. An ihnen kommt man nicht vorbei. Genauso aussichtslos ist es, mit den Mitarbeitenden ins Gespräch zu kommen. Gern würde man ihre Sichtweise erfahren. Doch sie halten dicht. Sie geben Antworten wie: "Kein Kommentar." Oder: "Schönes Wetter heute." Oder: "Oh, jetzt ist meine Pause vorbei." Ähnlich verschlossen verhält sich eine Sprecherin am Telefon. Auf Fragen geht sie nicht ein. Sie gibt Antworten ohne Antworten. Schade eigentlich. Lesen Sie auch: Mögliches Öl-Embargo: Was jetzt auf Verbraucher zukommt

Geht den Tankstellen in Ostdeutschland bald das Benzin aus?
Geht den Tankstellen in Ostdeutschland bald das Benzin aus? © FUNKE Foto Services | Jörg Krauthöfer

Schwedt: Die Einwohner wollen ihre Lebensader nicht verlieren

André Nicke ist Intendant der Uckermärkischen Bühnen, eines Theaters mit mehreren Sälen. Auf der Tribüne der Freilichtbühne will er über seine Eindrücke in der Stadt sprechen. Der 57-Jährige erzählt, wie dort, wo das Theater steht, einst das drittgrößte Schloss der Hohenzollern stand. Schwedt war Residenzstadt, lange her. Aber wie denkt Nicke über ein Embargo? "Schwedt und das Umland dürfen keinen zweiten Exodus erleben", sagt er. "Wir dürfen die Schwedter nicht in die Ecke der Russland-Versteher drängen. Sie sind PCK-Versteher." Er sagt: "An jeder Stelle und Ecke wäre hier jemand betroffen, würde das PCK überhastet vom Netz gehen."

Wie eigentlich jedes Unternehmen in der Region sind auch die Uckermärkischen Bühnen abhängig von der Raffinerie. Über Umwege bekommt das Theater Wärme von der PCK. Ein Aus hätte aber mehr Folgen als nur die Energie. Nicke fürchtet um Schauspielabsolventen, die nicht mehr nach Schwedt kommen. "Niemand will in eine Stadt, die den Nimbus hat zu sterben." Finanzielle Mittel könnten wegbrechen, weil die PCK einer der wichtigsten Sponsoren ist. Bereits jetzt fließen 10.000 Euro an Fördergeldern vom Unternehmen nicht mehr. Weil niemand weiß, wie es weitergeht.

Der Intendant ist überzeugt, dass Schwedt eine Zukunft haben kann. Er vergleicht die Aufgabe seines Theaters mit der einer Stadt. Beide müssten für Erzählungen sorgen. Und Schwedt habe den Stoff für Geschichten. "Es gibt Industrie, ein Theater, ein Schwimmbad, ein Klinikum und einen Nationalpark." Deshalb sieht Nicke eine Chance für Schwedt, auch wenn das abgedroschen klingen mag. "Wir müssen uns im Klaren sein, dass Erdöl bei der Dekarbonisierung der Industrie nicht die Zukunft ist." Daher sollte die Politik jetzt kurzfristig handeln. "Die Angestellten in der PCK müssen ihren Arbeitsplatz behalten. Wandern sie ab, können wir den Transformationsprozess vergessen. Und die Politik muss den Menschen versprechen, dass der Strukturwandel sogar einen wirtschaftlichen Aufschwung bringt."

In Zeiten der Verunsicherung soll das Theater die Einwohner von ihren Sorgen ablenken. Nicke möchte die Schwedter mit der "archaischen, anarchistischen Kraft des Lachens" befähigen, ihren Alltag zu überstehen. So sagt er das.

Viele der Menschen in Schwedt sind mit der PCK eng verbunden

In Schwedt sind sie mehrheitlich gegen ein Ölembargo. Da ist der Praktikant, der Kindergärtner werden möchte: Er befürchtet, dass ein Aus der PCK der Todesstoß für den Ort sein kann. Da ist die Kellnerin einer Brauerei: Sie mag einen Importstopp nicht kommentieren, sagt nur, dass sie sich über die Zukunft ihrer Stadt sorgt. Da ist die Inhaberin eines Hörakustikstudios: Sie glaubt kaum, dass ein Embargo Putin in die Knie zwingen kann. In den Gesprächen begreift man, dass die Identifikation der Einwohner mit der Raffinerie enorm ist, selbst wenn sie nicht dort arbeiten. Die Schwedter wollen die Lebensader ihrer Stadt nicht verlieren.

Robert Habeck hat sich mittlerweile angekündigt. Am Montag will er nach Schwedt kommen. Ob die Angst vor der Ungewissheit danach kleiner oder größer ist, wird sich zeigen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.